Chemiereform verwässert

Die EU will die Chemiepolitik neu regeln. Doch die Industrie wehrt sich erfolgreich: Unbedenklichkeit von Produkten muss auch künftig nicht nachgewiesen werden

BERLIN taz ■ Die Europäische Kommission plant eine Reform des Chemikalienrechts. Eine Woche vor der entscheidenden Abstimmung im Umweltausschuss kämpfen in Brüssel jetzt die Lobbyisten: In der Industrie „wächst die Hoffnung auf eine praktikable Lösung“. Die Umweltverbände hingegen stellen fest, dass die „Kommission dem massiven Druck der Chemieindustrie nachzugeben scheint.

Es geht um die Registrierung und Risikobewertung für rund 30.000 chemische Substanzen, deren Wirkung auf die Umwelt und den menschlichen Organismus weitgehend unbekannt ist.

Vor vier Jahren war die EU-Kommission mit dem ehrgeizigen Anspruch angetreten, für sämtliche Stoffe ab einer produzierten Jahresmenge von einer Tonne schrittweise Sicherheitsdaten zu verlangen. Die damalige Umweltkommissarin Margot Wallström hatte gar ihr Blut auf Chemikalien untersuchen lassen. Sie wollte belegen, wie stark jeder Mensch mit Stoffen in Berührung kommt, deren Wirkung auf den Organismus in den meisten Fällen völlig unklar ist. Umweltverbände hatten den Inhalt von Staubsaugerbeuteln unter die Lupe genommen und auch dabei chemische Rückstände in großer Zahl entdeckt.

Zugleich hatte auch die chemische Industrie öffentlichen Druck aufgebaut – gegen den Gesetzentwurf. Sie drohte mit dem Verlust zigtausender Arbeitsplätze in Europa. Ihre Kampagne zeigt nun Wirkung. Vorvergangene Woche schwächten zunächst sowohl der Industrie- als auch der Binnenmarktausschuss des Parlaments den Entwurf bis zur Unkenntlichkeit ab. Kommission und Rat schwenken jetzt auf diese Linie ein.

Danach müssten für einen Großteil der Stoffe nur noch die Daten vorgelegt werden, die ohnehin bereits bekannt sind. Im Klartext: Hersteller, die das Risikopotenzial ihrer Produkte bereits gut dokumentiert haben, müssten mehr offen legen als Konkurrenten, die sich derartige Forschungskosten sparen.

Ursprünglich sollten die Hersteller durch hohe Registrierungsauflagen dazu gebracht werden, weniger belastende Stoffe zu entwickeln. Dieser Effekt verpufft mit den neuen Ideen. Öko-Dumping wäre vorprogrammiert.

Bislang war geplant, die Hersteller dazu zu verpflichten, die Unbedenklichkeit ihrer Produkte nachzuweisen. Ansonsten sollten sie auf dem Markt nicht zugelassen werden. Davon aber soll die Industrie nun befreit werden. Dafür soll es eine neue europäische Chemieagentur geben. Diese soll weitere Daten von den Produzenten einfordern können, falls sie einen begründeten Verdacht hat, dass eine Substanz für den Menschen oder die Umwelt gefährlich sein kann.

Am 4. Oktober geben die Abgeordneten des Umweltausschusses ihr Votum ab. Ihr Spielraum für Nachbesserungen schrumpft, da sich sowohl die an der Gesetzgebung beteiligten nationalen Fachminister als auch die Kommission für die Argumente der Industrieverbände aufgeschlossen zeigen.

DANIELA WEINGÄRTNER