Körper Die Frau im mittleren Alter: Simone Meiers Roman „Fleisch“ ist amüsant und klug, aber plakativ
: Wie im Genderlehrbuch

Beobachtungen von präziser Bosheit: Simone Meier Foto: Dominique Meienberg

Von Nina Apin

Wenn der nächste runde Geburtstag der 50. ist, dann kann es sein, dass der eigene Hintern optisch anmutet wie „ein Kartoffelsack, den man sieben Stunden lang in kochendes Wasser getaucht und danach gegen eine Wand geschlagen hatte“. So jedenfalls geht es Anna, die sich, vom Selbsthass überwältigt, zum Schönheitschirurgen schleppt, um den Schaden professionell einschätzen zu lassen. Aber soll sich eine Frau mit Karriere in der Kulturförderung wirklich von einem Frauenhasser, der aussieht „wie eine geschälte Kellerassel“, 10.000 Euro für eine Operation abknöpfen lassen?

„So! Nicht!“ Anna wählt den vernünftigen Weg, rennt aus der Praxis – und rein ins Bistro, um sich dort mit Gänsestopfleber-Brioche und einem Glas Crémant zu trösten. Und während sich Anna fühlt wie die Allegorie der Verzweiflung in Gestalt einer dürren Mumie (freilich mit dickem Hintern), sieht die junge Kellnerin eine Frau mit „Augen blau wie der Himmel über Rio de Janeiro“ und den Wangen, Haaren und Hüften von Jean Seberg.

Simone Meiers Roman „Fleisch“ hat ein interessantes Grundthema: die Frau im mittleren Alter. Innenleben, Außenwirkung, Komplikationen. Das Innenleben der Anna mit ihrer Abgeklärtheit, ihrer Lust aufs (Fleisch-)Essen und ihrer plötzlichen Lust auf andere Frauen, ist klug und temporeich beschrieben. Meiers Beobachtungen sind von präziser Bosheit: Der jämmerliche Sex, den Anna und ihre Langzeitaffäre Max miteinander haben, ihre immer bizarrer werdenden Einschlafrituale, die ewig zu fällenden Entscheidungen über Fördergeldanträge „von süßen jungen Kollektiven, die immer irgendwas mit Hitler“ machen – all das liest sich vergnüglich.

Doch dann, und leider allzu bald, kommt die WG ins Spiel. Die „grashalmdünne“ Kellnerin Lilly aus Annas Lieblingsbistro lebt in einem anregend verwahrlosten Haushalt mit exotischen Gestalten zusammen: „Ohne sich für Sue auszuziehen, zog Lilly sich wieder in die Küche zurück, wo Alex bereits einen Teller mit Rührei und einem aufgebackenen Croissant für sie bereitgestellt hatte. Der Veganpunk strahlte sie an und Jonas kritzelte seinem Transformer selbstvergessen und zufrieden einen Penis zwischen die Roboterbeine. Das Einzige, was jetzt noch fehlt, dachte sie, ist eine kleine, Milch trinkende Katze. Die man nachts als Kakerlakenjägerin einsetzen könnte. Alles war gut. Hier, jetzt, in dieser Küche, dieser Stadt, an diesem Morgen.“

Verzicht auf Welthaltigkeit

„Ist gut jetzt!“, möchte man da genervt rufen. Eine sich langsam entwickelnde Frauenliebe, ein fürsorglicher, aber vermutlich asozialer Techie-Mitbewohner, eine Männer wie Frauen mordende Bi-Schönheit, die sich gelegenheitsprostituiert, und dazwischen der arme Heterospießer Max, den die Unübersichtlichkeit buchstäblich in den Wahnsinn treibt – wie hier sämtliche Spielarten sexueller Identitäten aufgefächert werden, hat etwas Genderlehrbuchhaftes.

Wohngemeinschaften als Garanten zeitgenössischer Wildheit – in Sven Regeners „Herr Lehmann“-Trilogie war das lustig, weil zeithistorisch plausibel. In Raul Zeliks Roman „Berliner Verhältnisse“ atmete die WG bereits linken Romantizismusverdacht. Bei der Schweizerin Simone Meier, die den Handlungsort ihrer Geschichte in eine abstrakte „kleine, große Stadt“ verlegt, führt der Verzicht auf Welthaltigkeit geradewegs ins Klischee.

Keiner der Figuren, die sich im Lauf der Handlung schicksalhaft ineinander verstricken, kommt man wirklich näher. Vielmehr hat man gegen Ende das Gefühl, einem clever konstruierten Planspiel zu folgen. Leider auf Kosten Annas: die alternde Frau – Innenleben, Außenwirkung, Komplikationen. Da wäre noch mehr gegangen.

SimoneMeier: „Fleisch“, Kein & Aber Verlag, Zürich 2017, 256 Seiten,22 Euro