Merkels Türkeifrage

Bei CDU/CSU wird die Türkei auf den Islam reduziert, zugleich werden Muslime in Europa unter Generalverdacht gestellt. Es ist an der Zeit, diesen Kulturkampf endlich aufzugeben

Merkel ist ebenso wenig wie seinerzeit Kohl eine radikal-konservative Ideologin

Man mag in den sieben rot-grünen Regierungsjahren so manches Mal enttäuscht gewesen sein. Angesichts einer möglichen großen Koalition unter einer Kanzlerin Angela Merkel wird jedoch auch klar, dass man zumindest auf einem Feld schon sehr bald wehmütig an Rot-Grün zurückdenken könnte: in der Einwanderungspolitik. Merkel und die CDU stehen für die Renaissance eines deutschtümelnden Konservatismus der Ära Kohl und für ein gesellschaftliches Klima, in dem Übergriffe auf Asylantenheime und offener Rassismus an der Tagesordnung waren und diesen von politischer Seite nicht aktiv begegnet, sie sogar zum Teil populistisch gefördert wurden.

Merkels Sündenregister mit Blick auf die Einwanderungsgesellschaft ist lang. Bezeichnend ist, wie sie ihre Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft begründet hat. In den Vordergrund stellte sie nicht etwa berechtigte Vorwürfe gegenüber halbherzigen Reformen des Rechtsstaats, sondern den „islamischen“ Charakter der Türkei. Als islamisch geprägtes Land passe die Türkei nicht zu Europa, weil der Islam „keine Aufklärung erlebt“ habe und daher Unterschiede in Fragen der Ehe, der Rolle der Frau und des Individuums bestünden.

In diesem kulturalistischen Denken wird die Türkei auf den Islam reduziert. Ihr wird jede Entwicklungsfähigkeit abgesprochen, als hätte es den Laizismus Atatürks und die Modernitätsdifferenzierung des Landes nie gegeben. Auch wenn man gerne zurückfragen möchte, ob die CDU je eine Aufklärung erlebt hat, in der etwa die Unterscheidung zwischen politischem Islam und Islam als Volksreligion zur Kenntnis genommen wird, sollte man die christdemokratische Führung nicht unterschätzen. Denn so richtig es ist, dass Frau Merkel Kanzler Schröder wegen dessen populärem Nein zum Irakkrieg auf dem Feld der Außenpolitik wenig entgegenzusetzen hat – ihr Nein zum EU-Beitritt der Türkei stößt auf ebensoso große Resonanz.

Geradezu legendär ist Merkels Feststellung aus dem Jahr 2004, die Ermordung des holländischen Islam-Kritikers Theo van Gogh durch einen Muslim beweise, dass die multikulturelle Gesellschaft „grandios gescheitert“ sei. Diese Analyse war nicht nur falsch, weil die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland trotz Terrorismusangst und Alltagsdiskriminierung recht lebendig ist und Gewalt zwischen religiösen und kulturellen Gruppen eine absolute Randerscheinung darstellt. Das Verantwortungslose an Merkels Äußerung war die Bedenkenlosigkeit, mit der sie von der Tat eines Einzelnen auf die schuldhafte Verantwortung einer ganzen Gruppe der muslimischen Einwanderer schloss. Geradezu reflexartig stellte sich die Parteivorsitzende auf diese Seite einer empörten und seltsam unaufgeklärten Islamophobie, die berechtigte Kritik nicht von kulturkämpferischer Kollektivverurteilung zu trennen vermag.

Diese dem Merkel-Konservatismus eigene Reduktion der interkulturellen Beziehungen auf eine gesellschaftliche Restgröße in Zeiten der Rezession, deren man sich als ideologisches Instrument zum Schüren von entsprechenden Konflikten in der Innen- und Außenpolitik bedienen darf, erlebte ihren Sündenfall in der Debatte über die „deutsche Leitkultur“ im Jahr 2000. Die vom damaligen Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz erdachte und von Merkel unterstützte Losung formulierte den Anspruch auf die restaurative Verteidigung der deutschen Sprache, der überbrachten Kultur und der Vorrechte der Alteingesessenen gegenüber den Einwanderern. Vehemente Proteste des Zentralrats der Juden wurden weggewischt. Widersprüche zur gleichzeitig heraufbeschworenen „Globalisierung“ nicht zur Kenntnis genommen.

Bei aller Kritik am Konzept der deutschen Leitkultur bedeutet es in der Geschichte des Konservativismus doch einen relativen Fortschritt. So sehr es auch die Vormacht der Mehrheit über Minderheiten zementiert, beinhaltet es doch das Eingeständnis, dass deutsche Kultur erlernbar und erwerbbar ist. Man könnte die Idee der Leitkultur, so vage sie im Einzelnen auch vorgetragen wurde, immerhin als endgültigen Bruch mit Abstammungsideen und völkischer Ideologie betrachten, die sich bis heute im rechtsextremen Lager tummeln, oder auch als moderne Hinwendung zum amerikanischen Modell der Einwanderungsgesellschaft.

Für das konservative Lager ist sie allemal eine notwendige gedankliche Brücke, nach dem Motto: „Wenn schon Einwanderer, dann aber bitte zu unseren Bedingungen.“ Aber mit Angela Merkel würde eine ausschließlich problembeladene Sicht auf Einwanderung in die Regierungsverantwortung zurückkehren. Sekundiert von der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan, die das Verbot islamischer Kopftücher in Deutschland auf die Agenda setzte, und dem Außenpolitiker Friedbert Pflüger wird Merkel bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Entstehung von „Parallelgesellschaften“ und Ausländerghettos anmahnen. Rot-grüne Selbstverständlichkeiten, wonach „Integration“ ein vielschichtiger Prozess ist, bei dem Mehr- und Minderheiten aufeinander zugehen müssen und bei dem die Einwanderer ihre Kultur selbstbewusst zur Schau stellen und einen Platz in deutscher Gegenwartskultur verlangen können, solange sie den Rechtsstaat respektieren, werden neu erkämpft werden müssen.

Als der grüne Abgeordnete Christian Ströbele die Einführung eines islamischen Feiertags in Deutschland vorschlug, entgegneten ihm Merkel und Pflüger entrüstet, Deutschland ruhe auf christlich-jüdischen Traditionen und es seien nicht die Deutschen, sondern die Einwanderer, die sich anzupassen hätten. Zusammen mit dem Bekenntnis zur Globalisierung repräsentiert die CDU-Führung einen restaurativen Konservativismus, der eine Mischung aus Weltläufigkeit und Provinzialität ausstrahlt, wie ihn viele Bürger wollen, ungeachtet der Frage, ob diese Konzepte auch im Alltag funktionieren.

Merkels Sündenregister mit Blick auf die Einwanderungsgesellschaft ist lang

Merkel ist ebenso wenig wie seinerzeit Kohl eine radikal-konservative Ideologin. Differenzen zur CSU sind zumindest in der Tonart vorhanden. Aber als Kanzlerin wird sie allemal geneigt sein, konservative Sehnsüchte zu instrumentalisieren, um über Probleme auf anderen Feldern hinwegzutäuschen. Dies ist die Schule Helmut Kohls, durch die sie gegangen ist. Mit Angela Merkel und der CDU kehrt möglicherweise jene bleierne Zeit zurück, in der mit Begriffen wie „geistig-moralische Wende“ (Regierungserklärung 1983) stets eine ethische Rolle rückwärts gemeint war.

Ein moderner Konservatismus wäre denkbar, in dem christlich-traditionelle Eigenarten gepflegt, zugleich aber die vollständige kulturelle Repräsentanz von Einwanderern akzeptiert und kulturkämpferische außenpolitische Thesen, wie bei der Türkeifrage, aufgegeben würden. Ob eine Kanzlerin Merkel lernfähig genug wäre, diesen Schritt zu wagen, ist leider zu bezweifeln. KAI HAFEZ