Das Stadtrand-Kollektiv feiert das Prinzip Zerstörung – und die Leute feiern mit: Das Anti-Vergnügen
AM RAND
Klaus Irler
Am Stadtrand hat alles seine Ordnung. Wenn im Park ein Baum umfällt, kommt ein Kettensägen-Team und räumt auf. Wenn ein Fahrradfahrer seine Anstecklampen nicht dabei hat, bekommt er von der Polizei ein Bußgeld, auch wenn sie ihn am helllichten Tag kontrolliert. Das Leben am Stadtrand ist ordentlich, und deshalb muss ich öfter in Niendorf-Nord in die U-Bahn steigen. Die U-Bahn fährt in eine andere Welt, das tut sie alle zehn Minuten und ich liebe sie dafür.
Auch vom Stadtrand, aus Seevetal, kommt das Musik-Kollektiv HGich.T. Es gibt Videos im Internet, in denen die HGich.T-Performer auf Äckern, vor Tankstellen oder in Wäldern zu ihrem harten Techno tanzen. Dabei tragen sie Bauarbeiterwesten, Windeln, Polizeiuniformen und String-Tangas. Eine auf doof getrimmte Stimme erzählt zum Beat wirre (Drogen-)Geschichten, Richtung: „Ein Polizist mit Elfenohren, mit Elfenohren schreibt er was auf.“
Ihre Videos wurden auf Youtube bis zu 2,5 Millionen Mal geklickt. Ich glaube, es liegt daran, dass sie ihre Randlage als Chance begreifen. HGich.T machen alles kaputt, was es an ästhetischen Übereinkünften gibt. Da findet sich weder der Landdisco-Besucher noch der St.- Pauli-Hipster wieder.
Ich habe mir im Grünspan ein Konzert angeschaut. Auf der Bühne standen vier bis fünf Performer und ein Haufen Zeug, angemalt mit fluoreszierender Farbe. Das Zeug leuchtete durch den Einsatz von Schwarzlicht, es sah so aus, als hätten Kinder eine Geisterbahn gebaut. Hinzu kamen Schnüre, die kreuz und quer durch den Zuschauerraum gespannt waren. Auch die Schnüre leuchteten im Schwarzlicht, ebenso wie die Schminke, die sich die Leute auch im Publikum ins Gesicht geschmiert haben. Die Schminke war wie Kriegsbemalung. Es war voll und laut. Das Netz wackelte, wenn jemand daran zog.
Dann betrat ein vielleicht 40-jähriger Typ die Bühne, Hemd, Brille, Typus Lehrer für Mathe und Physik. Er begann mit schnarrender Stimme und irrem Blick wirres Zeug zu reden. Damit machte er jedes Einfühlen in die Beats, die aus den Keyboards und Mischern kam, unmöglich. Es war unerträglich. Das Publikum tanzte euphorisch.
Ich stand da und schaute ungläubig, als ein Typ neben mir mit einer Handbewegung bedeutete, mitzutanzen. Ich schüttelte den Kopf. Er schrie: „Bist Du Herzchirurg oder was?“ – „Nein“, schrie ich, „ich finde die Band schrecklich.“ – „Das ging mir am Anfang auch so“, sagte er.
Da, wo alles kaputt ist, entsteht eine neue Freiheit, die die Leute bei HGich.T erleben. Sie nehmen das Kaputte als Zustand in Kauf und das fühlt sich irgendwann gut an. Es ist ein Vergnügen, das darin besteht, keinen Grund zum Vergnügen zu haben. Diese Art Vergnügen kommt vom Rand.
Außerdem habe ich gelernt, dass Herzchirurgen nicht tanzen und Spaßbremsen sind. Kann sein, dass da was dran ist.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen