: Die Körper aus dem Schrank
Kunst Mit komplexen Einblicken in das Denken des Bildhauers macht sich der Mut des Marcks-Hauses bezahlt, unbekannte Skizzen statt berühmter Statuen auszustellen
von Jan-Paul Koopmann
Dass man bei der zehnten oder vielleicht zwanzigsten Bleistiftzeichnung einer Hand plötzlich tiefe Faszination empfindet, die einen auch Stunden später noch umtreibt – damit konnte man nicht unbedingt rechnen. Die Ausstellung klang doch ehrlich gesagt eher dröge: Zeichnungen von Füßen, Händen oder Rücken, die Bildhauer Gehard Marcks in seinem Atelier lagerte, um damit zu arbeiten. Über 13.000 solcher Blätter liegen im Marcks-Haus. Um die Jahrtausendwende wurden mal ein paar ausgestellt, ja, aber so richtig präsent waren sie doch nie. Während der Umbaupause des Museums haben die Mitarbeiterinnen diese Zeichnungen nun digitalisiert und ins Internet gestellt. Und eben diese Ausstellung konzipiert: „Der Bildhauer denkt! Zeichnungen von Gerhard Marcks“. Eine Schau also, in der Marcks’Skulpturen nur eine Nebenrolle spielen.
Für seine Arbeit waren diese Zeichnungen unverzichtbar. Denn Marcks’menschlichen und tierischen Modelle hat er ausschließlich gezeichnet und sich erst dann an die Plastiken gemacht, für die er heute berühmt ist. Dass Künstlerinnen und Wissenschaft sich mit solchen Zwischenschritten herumschlagen müssen, wenn sie der Entstehungsgeschichte von Werken nachgehen, ist klar. Sowas allerdings einem größeren Publikum schmackhaft zu machen, ist dann doch eine Herausforderung. Dass es hier gelungen ist, liegt wohl auch daran, dass Marcks’Arbeitsmaterial ausgesprochen schön anzusehen ist und so zweidimensional noch lebensechter als die Plastiken wirkt. Locker aufbereitet ist es dazu, wenn da etwa ein Akt neben der wohlverhüllten Steinskulptur „Psyche“ hängt, für die er vielleicht einmal Studie war.
Marcks hat seine Modelle in Bewegung gezeichnet und so die Beziehung von Details und räumlicher Wirkung erforscht. Er hat sie spontan innehalten lassen, um genau diesen Moment zu erfassen. Vielleicht sind noch Spuren der Aktivität in den Zeichnungen aufgehoben, wenn sowas denn geht. Ganz sicher aber – und das ist die eigentlich spannende Erkenntnis der Ausstellung – hat Marcks hart daran gearbeitet, den Natureindruck im nächsten Arbeitsgang verschwinden zu lassen.
Denn wie die Ausstellung dokumentiert, geht der Bildhauer Marcks auf größeren Abstand zur Natur, wenn er Körper räumlich konstruiert, abstrahiert und dabei die Grenzen der doch so sorgsam studierten Anatomie sprengt. Dass Marcks sich dabei noch einem Urbild anzunähern versucht, klingt nicht nur ein bisschen kompliziert, sondern macht tatsächlich Mühe. Und darum ist es ja auch so eine große Freude, dass man sich im frisch renovierten Marcks-Haus traut, dem Publikum dieses Hinsehenmüssen zuzumuten.
Es geht nicht so sehr um das Was als um das Wie: Die Exponate sind nach ihrem Gebrauch zusammengestellt. Ein Raum mit Detailstudien etwa zeigt Hände und Füße von 1968 gleichberechtigt neben einer Kopfstudie von 1905. Die Abteilung zur Sichtachse konfrontiert derweil die Bronzefigur „Kriemhild II“ (1971) mit Bleistiftzeichnungen eines liegenden Mannes aus den 1920ern.
Zu sehen, wie Marcks denkt, wenn er arbeitet, ist ein ungewohnt intimer Einblick in den sonst wenig nahbaren Künstler. Seine Motive geben nur wenig Preis: Marcks’menschlichen Figuren sind in nicht erkennbare Tätigkeiten verschickt, ihre Haltungen wirklich zu verstehen, erfordert ein Erfahrungswissen um Körperlichkeit, das kaum noch jemand hat. Bei den von Marcks so gern dargestellten Tieren ist es noch schlimmer. Die sind geradezu vorsätzlich bedeutungsleer, also unpolitisch. Ganz besonders diese Kühe. Ein bisschen leidend hat der 1919 als künstlerischer Leiter ans Bauhaus berufene Marcks damals notiert: „Die Atmosphäre wird wohl ewig politisch bleiben.“ Darum habe er dann auch eine extragroße Holzkuh in die Akademieausstellung des Avantgarde-Tempels geschickt.
Die heutige Schau zeigt nun fast hundert Jahre später, was für ein feinsinniger Beobachter Marcks war und mit welcher unglaublichen Ernsthaftigkeit er sich auf die Suche nach der Form begeben hat, während er doch auch inhaltlich mehr als genug zu sagen hätte: Marcks wurde von den Nazis seiner Lehrtätigkeit beraubt und fand sein Werk als „entartet“ verunglimpft. Seine jüdische Schülerin und Muse Trude Jalowetz musste ins Ausland fliehen. Auch das Massenschlachten zweier Weltkriege hat Marcks nah erlebt, aber trotzdem: Politisch gearbeitet hat er nie. Weil er seine Kunst als ungeeignet empfand, dieses Erleben darzustellen, vermutet Museumsdirektor Arie Hartog. Aber Kriegsbilder könnten einen auch nicht stärker aufrütteln als das: Zu sehen, wie so einer schweigt, Hunderte Hände zeichnet und darüber nichts als die Form zur Meisterschaft bringt.
Die Ausstellung „Der Bildhauer denkt! Zeichnungen von Gerhard Marcks“ ist bis zum 18. Juni im Gerhard-Marcks-Haus zu sehen.
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