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Archiv-Artikel

Einheits Liebster

Die 15 Jahre veränderten seine Freundschaft zu Oskar Lafontaine, neulich hat er ihn angebrüllt

AUS HAMBURG NADJA KLINGER

Im Oktober 1989 saß in Hamburg ein älterer Herr an einem Text. Er suchte nach den richtigen Worten für ein ungutes Gefühl.

Er war ein Mann, der Orte in der Bundesrepublik danach beurteilte, wie vorzüglich man an ihnen essen und ob man exquisiten Rotwein trinken konnte. Wie es in der DDR um diese Qualitäten bestellt war, konnte er viele Jahre nicht sehen, denn die DDR ließ lange niemanden einreisen, der beim Spiegel arbeitete. Aber er war der Chefredakteur. Er konnte schreiben, was er wollte. Er schrieb diesen Satz: „Ich will nicht wiedervereinigt werden.“

Das gab Ärger. In der Redaktion meckerten die Kollegen. Argumente hatten sie nicht. Irgendwie waren sie wie besoffen. Zornige Leserpost schneite herein, andere Zeitungen maulten. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein verfasste einen Gegenkommentar.

Ein Jahr später wurde wiedervereinigt. Eine neue Zeit brach an. Sie raste.

Erich Böhme ist mittlerweile 75. Er hat zum vierten Mal geheiratet, eine Krebserkrankung besiegt. Für ein Foto hat ihn eine Illustrierte neulich auf die nostalgische Verandatreppe seines Hauses in Hamburg-Altona postiert. Den Kopf in die Hand gestützt, guckt er seelenruhig aus dem Bild. Der Satz vom Herbst 1989 ist immer bei ihm geblieben. Als Zierde. Wie das rote Seidentüchlein im hellen Jackett.

Die rasende Zeit hat Erich Böhmes ungutes Wiedervereinigungsgefühl verpönt. Das Land ist größer geworden und schöner. Die Zeit hat ihm aber auch Recht gegeben. Das Land ist groß, aber nicht großartig. Böhme wollte, dass die Deutschen gute Nachbarn sind, „so lange, bis sie vor Liebe nicht mehr aufrecht gehen können“. Statt Liebe haben sie einen verzwickten Einigungsvertrag. Böhme lächelt. Er hat den Satz im Spiegel genau so gemeint, wie er da stand. Im Unterschied zu vielen Menschen hat er ihn nie gelebt. Böhme ist anders. Er sitzt auf seiner Verandatreppe mit nackten Füßen in schwarzen, polierten Schuhen.

Nachdem er vom Spiegel weggegangen war, wurde er Moderator der Sat.1-Sendung „Talk im Turm“. Das war Anfang 1990. Ein Talkshow-Boom begann. Auf allen Sendern saßen sie und quatschten. Böhme fand bald, dass Gäste aus Ost und West in einer Runde die interessantesten Gespräche hergaben. Nicht selten flogen die Fetzen. Böhme zog die Lesebrille von der Nase, schwenkte sie zwischen den Fingern, kaute auf den Bügeln. Dann stellte er Fragen. Schraubte in aller Ruhe Worte aneinander. Während andere Leute mindestens zehn Satzzeichen überrannten, setzte Böhme ganz gemächlich gerade mal drei. Seine bremsende Art erinnerte daran, dass alles seine Zeit braucht. Das passte nicht in die Zeit. „Sagen Sie mal, sind Sie nicht der, der nicht wiedervereinigt werden wollte?“, haben die Talk-Gäste gefragt.

Wo immer er seit Herbst 1989 auftauchte, war der Satz vor ihm da. Er hockte in der Redaktion der ostdeutschen Berliner Zeitung, als Erich Böhme im Herbst 1990 dort aufkreuzte. Er war über 60. Eigentlich wollte er keinen neuen Job mehr. Aber dann schien es ihm angebracht, den Ossis zu zeigen, dass er nichts gegen sie hatte. Ein Pförtner baute sich vor ihm auf. „Wo wollen Sie hin?“ Böhme antwortete: „Ich bin der neue Herausgeber.“ Der Pförtner hielt das für einen Gag mit der versteckten Kamera. Böhme fiel der Name der Sekretärin in der Chefredaktion ein. Er ließ durchrufen. „Um Himmels willen!“, hörte er die Frau am anderen Ende zum Pförtner sagen.

Es war nicht des Himmels Willen, sondern der der DDR-Bürger, dass Deutschland rasch wiedervereinigt wurde. „Sie hatten Sehnsucht nach Vereinigung“, sagt Erich Böhme heute, „einen kreatürlichen Drang nach Freiheit.“ Er krümmt sich, als durchlitte er beim Aussprechen dieses Schicksal.

Die Ossis in der Berliner Zeitung sahen sofort, dass er keiner von ihnen war. Sie beobachteten, wie er die Blumentöpfe aus seinem Zimmer entfernen ließ. Sie sagten: „Herr Böhme, wir haben hier alle viele Pflanzen.“ Er warf auch noch die Gardinen raus. Sie warnten: „Die von gegenüber können ins Fenster sehen.“ Böhme erwiderte: „Dann sehen die, dass ich arbeite.“

Er sagte: „Ich werde die Zeitung nach meinen Vorstellungen machen, denn man soll sie auch in Westberlin kaufen.“ Niemand wolle mehr als acht Seiten täglich lesen, prophezeiten die Ost-Journalisten. Sie wehrten sich, als der neue Herausgeber den Preis von 15 Pfennig erhöhte. Packenweise haben Leser Werbung rausgerissen und an Böhme zurückgeschickt. „Wir haben eine Zeitung abonniert, nicht so was“, schrieben sie. Er hat in Briefform geantwortet. Er war seit 50 Jahren Journalist. Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr, hat er den Ossis geschrieben. Und dann lang und breit erklärt, was eine Zeitung ist.

Wegen des jahrelangen Einreiseverbots kannte Böhme sein sozialistisches Nachbarland vor allem aus dessen Fernsehnachrichten. Die DDR hatte die Nase und die Stimme von Angelika Unterlauf, der Sprecherin der „Aktuellen Kamera“. Mit einer gewissen Strenge hat die Frau mit der dunklen Pagenfrisur aus dem Fernseher in Böhmes Hamburger Wohnzimmer geblickt. Vor sich hat sie mehrere Blätter Papier gehalten. Böhme versuchte, zwischen den Zeilen, die sie ablas, mehr herauszuhören, als darin verborgen war.

1987 war Erich Honecker zum Staatsbesuch in der Bundesrepublik. Weil er einen Milliardenkredit haben wollte, ließ er sich von Helmut Kohl voll motzen. Dann ist er ins Saarland, seine alte Heimat, gefahren. Als er das Wohnzimmer von Oskar Lafontaine betrat, saß ein alter Freund Lafontaines auf dem Sofa: Erich Böhme. Er hatte ein Spiegel-Titelbild rahmen lassen. „Das nehme ich mit!“, hat Honecker gesagt. Böhme erwiderte: „Ja, und dafür möchte ich wieder einreisen.“ Kurz darauf bekam er einen Brief und Böhme reiste ohne Probleme in die Hauptstadt der DDR. Das war nicht allzu lange vor dem Fall der Mauer.

Angelika Unterlauf ist mal in den Westen gereist. Wie alle DDR-Bürger, die kurz rüberdurften, musste sie ihre Kinder als Geiseln zu Hause lassen. 1985 wählten die Zuschauer sie zum „Fernsehliebling“. Im Westen schrieb Schlagersänger Volker Lechtenbrink für sie einen Song. Nach der Wende wurde sie arbeitslos. Erich Böhme lud sie in die Talkshow ein. Schwenkte die Brille, stellte Fragen. Während sie lang und breit antwortete, witzelte, lachte, kaute Böhme auf den Bügeln. Dann hat er sie, total fasziniert, „ein Opfer der Wiedervereinigung“ genannt.

Später traf er sie beim Sat.1-Frühstücksfernsehen wieder. Diesmal war er der Gast und sie hat ihm zugehört. Nach der Sendung haben sie weitergeredet. Und immer weiter. „Sie hatte was Exotisches.“ Und dann? Böhme sagt: „Rums bums!“ Wegen Angelika Unterlauf hat er sich von seiner Frau scheiden lassen. Die DDR-Nase zog zu ihm nach Hamburg. In der Stadt erlitt sie einen Kulturschock. Und auch zu Hause haben Böhme und seine neue Freundin nichts auf dieselbe Weise angepackt, bedacht, gesehen. Sie haben sich ständig einander erklärt.

„In den vielen Gesprächen, die ich mit dieser Frau hatte, habe ich mehr gelernt als von prominenten Gästen in den Talkshows“, sagt Erich Böhme. „Ich habe gelernt, dass der Mensch sich anpasst, um unter Verhältnissen, in die er hineingeboren wurde, vernünftig zu leben. Es ist durchaus eine menschliche Qualität, in der Lage zu sein, sich zu arrangieren.“ Letztes Jahr hat er Angelika Unterlauf geheiratet.

Er ließ die Zimmerpflanzen entfernen und die Gardinen auch. Die Ossis merkten: Das ist keiner von uns

Seine persönliche Wiedervereinigung sieht so aus: Wenn sie in seiner Nähe sei, sagt seine Frau, rede sie immer dazwischen. Also nimmt sie ihren Suppenteller, um lieber in der Küche zu essen. Er sagt: „Neulich sind wir in der Heide gewandert.“ Sie dreht sich im Gehen noch mal um: „Wandern kann man das nicht nennen.“ Er sagt: „Der Sommer im Périgord ist nie zu heiß.“ Sie steckt den Kopf durch die Tür: „Oh doch!“ Seine Ost-Frau korrigiert ihn.

„Wenn man auf Dauer eins sein will, muss das Visier offen sein“, sagt Erich Böhme. „Nichtreden ist Quelle jedes Misstrauens. Man muss erkennen, warum sich der andere so und nicht anders verhält.“ Das hört sich einfach an. Im Gegensatz zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung ist seine deutsch-deutsche Ehe mit Liebe ausgepolstert. Liebe, wegen der man irgendwann nicht mehr aufrecht gehen kann. Wegen der man sich einfach zueinander legt.

Vor ein paar Tagen hat Erich Böhme in Berlin am Brandenburger Tor eine Rede zum 15. Jahrestag der Wiedervereinigung gehalten. Warum sie gerade ihn gebeten haben? Danach hat er nicht erst gefragt. „Es ist wegen dem Satz“, sagt er. Worüber hat er gesprochen? Ganz kurz über den Oktober 1989, dann über „meine Ossis“ aus der Berliner Zeitung, am meisten von Angelika Unterlauf.

Sooft sie dorthin reisen können, verbringt er mit ihr Zeit in Südwestfrankreich. Seit 25 Jahren hat Erich Böhme im Périgord ein Traumhaus. Er hat dort schon mit anderen Frauen Urlaub gemacht, auch mit Franz Josef Strauß, Willy Brandt, Oskar Lafontaine. Kaum kommt er dort an, setzt er sich mit seiner Frau zusammen und fertigt Geschosse. Mit halbvollen Wasserflaschen werfen sie nach Hühnern und Puten, bis die begreifen, dass auf dem Grundstück kein Durchgangsverkehr ist. Auf Hasen, die alle Pflanzen abfressen. Ungefähr zwei Tage dauert das. „Die Flaschen fliegen so schön“, sagt die Frau von der „Aktuellen Kamera“. X-mal zieht ihr Mann los und sammelt sie wieder ein.

Was Erich Böhme in seiner Rede am Brandenburger Tor verschwiegen hat: dass die Linken im Westen, zu denen er zählt, Helmut Kohl schon viel eher losgeworden wären. Dass ihnen die Wiedervereinigung schmerzhaft in die Quere kam. Letztlich haben die vergangenen 15 Jahre auch Böhmes alte Freundschaft zu Oskar Lafontaine verändert. 1989, als Böhme wegen seines Satzes öffentlich verhauen wurde, hielt der Freund aus voller Überzeugung zu ihm. Jetzt haben sie sich angeschrien. „Du bist rachsüchtig, verbittert“, hat Böhme ins Telefon gebrüllt, an dessen anderem Ende die Galionsfigur der Linkspartei war. „Das ist keine Basis für linke Politik!“

Zum Spazieren in Frankreich setzt seine Frau ihm ein rotes Mützchen auf. Die Männer in der Gegend sind leidenschaftliche Jäger und schießen auf alles, was sich bewegt. Erich Böhme will noch lange in seiner Ost-West-Ehe leben. Er weiß aber schon, was sie ihm eines Tages auf den Grabstein schreiben: „Er wollte nicht wiedervereinigt werden.“