: Die Rückkehr der Vernunft
Die Medien, die Parteien und sogar Gerhard Schröder haben sich beruhigt: Alles spricht für eine große Koalition
VON JENS KÖNIG
Ludwig Stiegler, der rhetorische Ausnahmezustand der SPD, schlendert am Mittwochnachmittag durch den Reichstag und gefällt sich darin, die gedankenschweren Fragen diverser Fernseh-Jungredakteure entgegenzunehmen. Wann Schröder endlich aufgibt. Und ob Müntefering jetzt Vizekanzler wird. Stiegler, im Nebenberuf stellvertretender Fraktionschef, pumpt seinen Brustkorb auf, lächelt und antwortet: „Infotainment ist eine tolle Sache. Unterhaltung muss in diesen Tagen auch sein.“
Die Fernsehfritzen gucken irritiert, solche verstiegenen Sätze können sie nicht mal im Nachtjournal senden. Dabei hat Stiegler, der in dieser Woche bislang nur dadurch aufgefallen war, dass er seinem Genossen Kurt Beck „Verrat“ vorgeworfen und seinem Genossen Klaus Wowereit empfohlen hatte, „einfach das Maul zu halten“, dieser Stiegler also hat endlich mal einen wahren Satz gesprochen: Das allermeiste, was in den zehn Tagen seit der Bundestagswahl in Bezug auf Schrödermerkelmünte gesagt, geschrieben und gesendet worden ist, war, bestenfalls, Infotainment. Kein Journalist wusste wirklich etwas, aber jeder breitete es bis zum Abwinken öffentlich aus.
In diesen Zeiten war wieder einmal beispielhaft zu beobachten, dass Politik und politischer Journalismus, bei aller gelegentlichen Kumpanei, unterschiedlich ticken. Wo die Politiker noch mühsam dabei waren, das Wahlergebnis richtig zu deuten, und sich erst ganz langsam mit dem Gedanken an eine große Koalition anfreundeten, da hatten Journalisten schon längst – zum wievielten Mal eigentlich? – den Kanzler versenkt und hundertfünfzig Kabinettslisten für Schwarz-Rot zusammengestellt. Dass vieles dabei vorne und hinten nicht passte, merkte offenbar nicht einmal mehr die renommierte Süddeutsche Zeitung. Am Montag wusste sie noch ganz genau, dass der Kanzler bis Frühjahr 2007 im Amt bleiben und dann an Angela Merkel übergeben wolle, aber schon am Mittwoch teilte die Zeitung im Brustton der Überzeugung, also auf der Titelseite, mit, dass Schröder von seinem Anspruch aufs Kanzleramt abgerückt sei und Franz Müntefering jetzt Vizekanzler werde.
Erst zum Ende dieser Woche hin haben Politik und Medien ihre unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster wieder in Übereinstimmung gebracht. Nachdem der Testosteronspiegel des Kanzlers gesunken ist, Ampel und Jamaika in der Versenkung verschwunden sind sowie die ersten beiden Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD stattgefunden haben, lassen sich aus den ganzen Aufgeregtheiten ein paar halbwegs gesicherte Tendenzen herauslesen: Es wird wohl zu einer großen Koalition kommen. Der Kanzler hält seinen persönlichen Führungsanspruch nur noch als allgemeinen Machtanspruch der SPD aufrecht, damit seine Partei nicht als kleiner, sondern als gleichberechtigter Partner in eine solche Koalition eintritt. Und Angela Merkel wird am Ende wohl doch das werden, was ihr Schröder noch am Wahlabend verwehren wollte: die erste Bundeskanzlerin der Geschichte. Überraschungen? Sind nicht ausgeschlossen. Was im politischen Berlin ist in diesen Tagen schon sicher. Die Behauptung, dass Müntefering Vizekanzler wird, jedenfalls nicht. Viele in der SPD raten ihm davon ab. Der Spagat zwischen aufreibendem Parteivorsitz und Regierungsamt sei nicht zu halten, sagen sie.
Was am meisten für die große Koalition spricht? Zum einen natürlich das Wahlergebnis. Zum anderen das Sondierungsgespräch vom Mittwochabend. Merkel, Stoiber, Müntefering, Schröder – alle betonen, dass es nach dem ersten, noch sehr distanzierten Treffen in der Vorwoche diesmal eine „sehr konstruktive“ Runde gewesen sei. Personal- und Machtfragen sind ausdrücklich nicht behandelt worden. Auf Unionsseite wurde aufmerksam registriert, dass bei den Sozialdemokraten der Parteivorsitzende und nicht der Kanzler die tragende Rolle gespielt hat. Müntefering machte eine andere interessante Beobachtung. Er hat bei dem Treffen einen ersten Anspruch an eine mögliche schwarz-rote Regierung formuliert: Sie müsse eine „Koalition der Erneuerung und der sozialen Gerechtigkeit“ sein. Dies versteht er als Konsequenz aus dem Wahlergebnis, das der SPD-Chef als eine Niederlage für den kalten Neoliberalismus von Merkel, Westerwelle und Kirchhof liest. Merkel selbst hat diesen Anspruch an das große Bündnis später vor der Presse wiederholt.
Das sind erste Zeichen von wieder einkehrender Vernunft auf beiden Seiten. Auch bei vielen inhaltlichen Fragen sind Union und SPD in Wirklichkeit ja nicht so weit auseinander. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bei Aufrechterhaltung wichtiger sozialer Sicherungen, Föderalismusreform, Sanierung aller öffentlichen Finanzhaushalte, eingeschlossen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer – darauf könnten sich die beiden Parteien relativ schnell einigen. Nächsten Mittwoch wird weiter sondiert, danach könnten formell Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden. Was auch immer dabei herauskommt, Müntefering hat bereits klar gemacht, dass ein SPD-Parteitag eine mögliche schwarz-rote Regierung absegnen muss.
Und die Frage aller Fragen? Wer Kanzler wird, bleibt eine Nervenschlacht. Das Problem wird mit Sicherheit nicht am Anfang von Koalitionsverhandlungen entschieden, aber auch nicht erst an deren Ende. Alles eine Verhandlungssache. Es wird davon abhängen, was die Union für Schröders Verzicht anbieten kann und ob sie gleichzeitig cool genug ist, an Merkel als Kanzlerin, trotz aller Vorbehalte in der SPD, festzuhalten. Schröder hat am Montag im SPD-Vorstand klargestellt: „Es geht nicht um mich, es geht um die Partei.“ Seitdem glaubt kaum noch jemand in der SPD, dass der nächste Kanzler Gerhard Schröder heißt. Und viele Sozialdemokraten fragen sich inzwischen ja auch, was die SPD eigentlich davon hätte, wenn eine angeschlagene Merkel durch einen Hardliner wie Roland Koch ersetzt würde. Antwort: nichts. Eben.