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Von Eseln, Pferden und hohen Rössern

Essay Neoliberalisierung führt nicht nur bei denen, die sich Rechtspopulisten zuwenden, zur Entsolidarisierung, sondern auch unter Liberalen. Das gefährdet die Demokratie

Gegen alles Bunte: Demonstration gegen die Ehe für alle im Februar 2012 in Paris Foto: Vincent Boisot/Riva Press/laif

von Helmut Däuble

In nahezu allen Gesellschaften des Westens gefallen sich gegenwärtig rechtspopulistische Bewegungen darin, die liberale Demokratie als Fehlentwicklung zu bezeichnen. Dass dies gleichzeitig passiert, ist sicher kein Zufall, und ein Indiz dafür, dass es vergleichbare Entwicklungen geben muss. Diese werden hier in der Verwobenheit der ökonomischen und soziokulturellen Liberalisierung gesehen.

Die ökonomische Liberalisierung hat im Westen eine neoliberale Form angenommen. Unter der generellen Prämisse, dass marktwirtschaftliche Antworten immer besser seien als politische, lässt sich ein Rückzug des Staates beobachten. Dazu gehören etwa Deregulierungen, Privatisierungen, der Rückbau des Sozialstaats und eine Vermögenspolarisierung erzeugende Steuerpolitik.

Ein zentraler Effekt ist ein wachsender Druck in allen westlichen Gesellschaften. Es sind nicht nur Arbeitslose, prekär Beschäftigte und die untere Mittelschicht, auch die scheinbar abgesicherte gehobene Mittelschicht wird von der ständigen Gefahr der Wegrationalisierung und Arbeitsplatzverlagerung nicht verschont. Im Ergebnis lässt sich konstatieren, dass wir gleichsam zu Gesellschaften der Bedrängten geworden sind.

Menschen, die in Bedrängnis sind, versuchen sich daraus zu befreien. Obwohl die Suche nach den Wurzeln im ökonomischen Bereich liegen müsste, suchen sie die Ursachen paradoxerweise jedoch in der gesellschaftlichen Liberalisierung. Zweifelsohne hat sich in den Gesellschaften des Westens eine solche als soziokulturelle Modernisierung vollzogen, beispielhaft ablesbar an den gesteigerten Partizipa­tions­chancen von Frauen, der gewachsenen Akzeptanz von vielfältigen sexuellen Orientierungen oder dem zunehmenden Bewusstsein, dass dauerhafte Einwanderung Normalität ist.

Gerade dagegen hat sich in den letzten Jahren ein massiver – von Rechtspopulisten verstärkter – Widerstand aufgebaut. Das geht von den Demonstrationen Zehntausender in Paris gegen die „marriage pour tous“ (Ehe für alle) bis zu den sich „gegen alles Bunte“ wendenden Pegida-Märschen in Deutschland. Man denke nur an Jörg Meuthens AfD-Parteitagsaussage „Wir wollen weg vom linken, rot-grün verseuchten, leicht versifften 68er Deutschland“.

Eine Erklärung für die Zuwendung zu antiemanzipatorischen Strömungen liegt in der intransparenten Komplexität ökonomischer Dynamiken. Die Menschen sehen zwar, wie schnell sich ihre Lebenswelten ganz real verändern, aber die Ursache-Folge-Ketten bleiben ihnen oft verborgen. Aus dieser Ungreifbar- und Unbegreiflichkeit entsteht ein Bedürfnis nach leicht nachvollziehbaren Erklärungen. Dafür bräuchte man jedoch eine kritisch-aufgeklärte Analyse- und Urteilskompetenz, die in unseren demokratischen Gesellschaften stark unterentwickelt ist.

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Viele nehmen es so wahr, dass sich die „gute alte Zeit“ in gesellschaftlicher Hinsicht verändert habe: Frauenquoten, gleichgeschlechtliche Ehe oder Staatsbürgerrechte für Einwanderer sind Konkretisierungen sozio-kultureller Liberalisierungsprozesse. Und sie erscheinen greifbar. Sie für die erlebte Bedrängnis verantwortlich zu machen bietet sich als eine verführerische Erklärung an, egal wie absurd die Herstellung eines Zusammenhangs auch sein mag.

Ihr Normalitätsverständnis der männlichen Vorrangstellung, der Privilegierung von Heterosexualität und das Selbstverständnis, als Staatsangehöriger „ohne“ Zuwanderungsgeschichte bei Verteilungskämpfen automatisch privilegiert zu werden, ist jedoch in die Defensive geraten. Die so Denkenden sind – von Arlie Hochschild treffend formuliert – zu strangers in their own land geworden.

Momentum der Kränkung

Das Schlagen des falschen liberalen Esels, welches die gesellschaftliche Liberalisierung gleichsam als Sündenbock missbraucht, lässt sich allerdings nicht hinreichend über mangelnde Analysefähigkeit erklären. Ein weiteres erklärendes Momentum scheinen viel eher Kränkungen zu sein. Viele dieser Entfremdeten sehen, dass die Gewinner der ökonomischen in aller Regel auch die Takt­geber für die soziokulturelle Liberalisierung sind.

Diese „Doppelpack-Gewinner“ sitzen in den meisten Medien, in nahezu allen politischen Parteien und selbst in Institutionen wie dem Militär an führender Stelle und halten dort die Fahnen der Liberalität hoch. Auf den ersten Blick kann daher eigentlich nur verwundern, wie Illiberalität auch nur den Hauch einer Chance in den westlichen Gesellschaften bekommen konnte.

Verbunden mit der liberalen Dominanz dieser hauptsächlich urbanen Führungsschicht ist jedoch oft eine moralische Hochnäsigkeit gegenüber denjenigen, die sich als Vergessene wahrnehmen. Sie werden als Hinterwäldler verspottet oder als deplorables verhöhnt. Dass aus dieser Siegerpose nun aber Überheblichkeit wurde, empfinden sie als eine unverzeihliche Grenzverletzung: „Genug ist genug!“ Es ist also gerade der auf hohem Ross vollzogene Siegeszug der soziokulturellen Liberalisierung, der unter neoliberalen Rahmenbedingungen die rechtspopulistischen Bewegungen erst aufblühen lässt.

Gewinner der ökonomischen sind in aller Regel auch Taktgeber für die soziokulturelle Liberalisierung

Und in dieser Situation erkennen die vermeintlich Gedemütigten nun zum ersten Mal eine Chance, es dieser verhassten liberalen Aristokratie zu zeigen. Die Schmähungen werden als gravierend wahrgenommen und führen zu Wahlentscheidungen, die als Akte des Aufbegehrens deutbar sind: Wenn ich – so glauben viele – einen Ziegelstein durch die Wohnzimmerscheibe der wohlsituierten liberalen Mitte werfen kann und der einzige Stein, den ich zur Hand habe, ein Milliardär oder der Ausstieg aus der EU ist, dann nehme ich ihn – und Punkt.

Das Bauchgefühl, dass ein womöglich psychopathischer Krösus nicht unbedingt die beste Hilfe für die „Missachteten“ ist, wird verdrängt. Aber im Moment des Steinwurfs verschafft dieser ihnen eine immense Entlastung, verknüpft mit der Hoffnung, dass die durch das Scheibenklirren Erschrockenen sie ernster nehmen. Dass sie damit einer Autokratie den Boden bereiten, ist den Steinewerfern nur von sekundärer Bedeutung. Das angeschwollene Rachebedürfnis ist dominant und die Bereitschaft, selbstzerstörerische Wirkungen in Kauf zu nehmen, groß.

Aus der empfundenen Position der Schwäche heraus werden nun die Rechtspopulisten zum einzigen Fluchtpunkt. In ihren Augen ist es endlich Zeit, dass das Pendel zurückschlägt – und das unter expliziter Inkaufnahme von Illiberalität. Die Wut, die sich an den Geflüchteten und Zuwanderern als den Fremden von außen entzündet hat, kann sich nun also gegen diese liberalen Fremden von innen richten. Nur durch diese Gegenwehr glauben sie sich im eigenen Land wieder heimisch fühlen zu können.

Der liberale Staat gilt dabei als ein schwacher, sie nicht schützender Staat. Gerade weil sie ihre Position selbst als eine der Schwäche betrachten, suchen sie nach einer starken Hand, die die soziokulturelle und zugleich die ökonomische Liberalisierung stoppt. Die Wette auf den starken Staat und auf den autoritären Führer, der der neoliberalisierten Globalisierung entgegentreten möge, mag zwar naiv sein, erscheint ihnen aber als einziger Ausweg.

Foto: privat
Helmut Däuble

Der Autor lehrt als Akademischer Oberrat Politikwissenschaft und -didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er studierte Soziologie und Politik an der FU Berlin und der New School for Social Research in New York.

Eine Langfassung des Textes erscheint unter taz.de/meinland

Ihr Setzen auf das falsche Pferd des illiberalen Autoritarismus hat also durchaus eine neoliberalismuskritische Stoßrichtung: Soll doch der „starke Mann“ die Marktkräfte bändigen. In gewisser Weise lässt sich Rechtspopulismus daher auch als eine Revolte gegen den Neoliberalismus deuten. Ob eine Politik allerdings, die Protektio­nismus und Abschottung mit Steuersenkungen und Deregulierungen verbindet, antineoliberal zu nennen ist, ist eine andere – meiner Ansicht nach zu verneinende – Frage.

Insofern ist das Modell Putin, das als autokratisches Muster sich auch in den Demokratien des Westens allmählich zu universalisieren scheint, als das Versagen der Verteidiger liberaler Ordnungen zu deuten. Sie waren nicht in der Lage, den Siegeszug des ungezügelten Neoliberalismus einzuhegen und zeitgleich solidarischere Gegenmodelle zu etablieren. Der unaufhörliche Druck führt auch bei ihnen oft zur Verkümmerung der Fähigkeit, für gerechtere Verhältnisse zu sorgen. Die Bereitschaft, sich für politisch wirksame Maßnahmen einzusetzen, die die Repressionen reduzieren, zugleich aber den eigenen Status gefährden könnten, ist sehr gering. Das neoliberale Diktum, dass alles einer nüchternen Nutzen-Maximierung zu unterwerfen ist und dass der Homo oeconomicus das zentrale Leitbild darstellt, hat gerade bei ihnen einen Wohlstandschauvinismus erzeugt, der die Absicherung der eigenen Prosperität vorrangig werden lässt.

Die „Furcht vor Statusverlusten“, wie sie Jürgen Habermas bei den Anhängern der Rechtspopulisten findet und die er als „Regressionsphänomene“ tituliert, lassen sich daher durchaus auch bei den aufgeklärten Liberalen finden. Die Neoliberalisierung führt also nicht nur bei denjenigen, die sich den Rechtspopulisten zuwenden, zu einer Entsolidarisierung, sondern auch beim liberalen Milieu. Die Ellbogengesellschaft ist erkennbar auch dort vorgedrungen. Oder um Fassbinders Filmtitel umzuformulieren: Es gilt nicht nur, Angst essen Seele, sondern auch Druck essen Solidarität auf. Und dies in allen Lagern.

Aus dieser demokratiegefährdenden Situation kommt man wohl nur mit politischen Strategien heraus, tatsächlich gesellschaftliche Gegenmodelle zur neoliberalen Globalisierung so schnell wie möglich durchzusetzen, die zugleich die liberalen Demokratien erhalten. Kurzum: auf den richtigen Esel zu schlagen und aufs richtige Pferd zu setzen. Wie aber sollen diese Gegenmodelle aussehen? Und haben wir Kraft und noch ausreichend Zeit dafür?

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