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Archiv-Artikel

Gemeinsam atmen

Warum Ute immer tief Luft holt, wenn sie Frauen aus dem Westen trifft. Ute und Erika, das Protokoll einer deutsch-deutschen Beziehung

VON SIMONE SCHMOLLACK

Wir begegneten uns bei einer dieser nervenaufreibenden Zusammenkünfte, die die westdeutsche Frauenbewegung mit der ostdeutschen zusammenführen sollte. Irgendwann war die Idee für einen FrauenStreikTag geboren worden. Am 8. März 1994, dem Internationalen Frauentag, wollten Frauen aus unzähligen Städten und Gemeinden für ihre Rechte streiten. Der Tag, der für unglaubliches Aufsehen sorgen sollte, musste organisiert werden. Dazu trafen sich zahlreiche Frauengruppen aus Ost und West; Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte und Frauenpolitikerinnen kamen in regelmäßigen Abständen nach Kassel. Knapp ein Jahr lang. Je öfter Ost- und Westfrauen aufeinander trafen, desto deutlicher wurde, dass sie miteinander redeten, sich aber nicht verstanden.

Die Westfrauen wollten alles „gemeinsam atmen“, nach ihrem Karma schauen, das Unterbewusstsein freilegen und einen Kraftkreis bilden. Das konnte Stunden dauern. Oder Wochen. Oder Monate. Am Ende standen sie ohne Ertrag da und fühlten nur noch negative Energie. Sie waren betroffen und desorientiert. Und verletzt, sodass sie nicht mehr weitermachen konnten. Oder sie kamen morgens erst gar nicht aus dem Bett, weil sie menstruierten. Sie zeigten für alle und alles Verständnis. Kinder und Jugendliche, die man am liebsten durchschütteln möchte, waren in ihren Augen besondere Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Der Satz, den ich in jener Zeit am meisten hörte, war: „Ich muss erst mal schauen, was das mit mir macht.“

Während eines dieser Treffen wurden zahlreiche Arbeitsgruppen gegründet. Ich meldete mich für die Arbeitsgruppe Finanzen. Warum, kann ich heute nicht mehr sagen. Das Thema Geld hat mit mir in etwa so viel zu tun wie Angela Merkel mit Sexappeal. Mit meinem Problem war ich offensichtlich nicht allein auf der Welt. Schon gar nicht in Kassel. Plötzlich stand ich verloren im großen Saal, die Sparten „Gewalt gegen Frauen“, „Gleiche Chancen im Beruf“ und „Weg mit dem § 218“ waren augenscheinlich interessanter.

„Will denn keine über Geld reden?“, fragte ich vorsichtig. „Doch, ich“, hörte ich im Rücken eine Stimme. Sie klang tief und weich, wie ein warmer Wasserstrahl, von dem man unverhofft gestreichelt wird. Ich drehte mich um und sah eine Frau, die mir bisher entgangen war. Sie trug eine schwarze Lederjacke, stand schmal und gerade vor mir und hatte ein ebenmäßiges Gesicht. Kein Gedanke mehr an Finanzen, Vereinskassen und Mitgliederbeiträge.

Wo wollen wir anfangen?“, fragte sie. Sie ist klar und konstruktiv, dachte ich. Keine dieser Esoterikerinnen, deren Gelaber in den Maschen ihrer Wollröcke hängen blieb. Ich hatte das Gefühl, wir würden uns verstehen. Später, als wir längst ein Paar waren, verriet sie mir, dass ich ihr Leid getan habe und sie sich meiner nur erbarmte. Mit Geld kann Erika noch weniger umgehen als ich.

„Ich glaube, ich vergeude hier meine Zeit“, sagte sie. Was für ein Satz. Aus dem Mund einer Westfrau! „Ich fahr jetzt nach Hause“, schob sie hinterher. Mit ihren dreißig war sie ein Jahr jünger als ich, kam aus Gießen, war mit dem Auto hergekommen und wollte sich mir nichts, dir nichts aus dem Staube machen. Das imponierte mir. Ich kannte die Frau nicht, überlegte kurz und fragte: „Noch einen Kaffee vorher?“ – „Okay“, sagte Erika. Sie zog die letzte Silbe nach oben, es klang aufmüpfig und ein wenig abgeklärt.

In der Nähe der Fußgängerzone suchten wir nach einem Café und hatten die Wahl zwischen einer Bauernstube, einer Konditorei mit Stehimbiss und zwei Bäckereien mit weißen Plastikstühlen. Mag ich die Umgebung nicht, verzichte ich lieber. Erika schien anders zu sein. „Lass uns hier bleiben“, sagte sie zwischen Spitzendeckchen und Kunstblumen. „In ein paar Minuten fällt es dir gar nicht mehr auf, dann hast du dich daran gewöhnt.“ Ich war klug genug zu wissen, dass das nicht stimmen konnte, aber neugierig auf die Frau, die offensichtlich glaubte, mich zu kennen. Heute weiß ich, dass dieser Satz Sinnbild für den weiteren Verlauf unserer Beziehung werden sollte.

Vor allem für mich war alles neu und ungewohnt, was mit Erika in mein Leben strömte. Ich wohnte in Magdeburg und ein wenig hinterm Mond. Meine Tochter war sechs Jahre alt, von ihrem Vater hatte ich mich drei Jahre zuvor getrennt. Schon als Kind fühlte ich mich eher zu Frauen als zu Männern hingezogen. Dass ich lesbisch bin, wäre mir jedoch nie in den Sinn gekommen. Eine Liebe zwischen Frauen war nur in Städten wie Berlin, Hamburg oder Köln gestattet, fürchtete ich. Das biedere, kleingeistige Plattenbaustädtchen Magdeburg bot Lesben, wie ich nun eine sein sollte, keinen Platz. Mein Coming-out erschreckte mich trotzdem nicht.

Manchmal nahm ich meine Tochter mit nach Gießen. An einem Frühjahrsmorgen hat sie gesehen, wie Erika und ich uns küssten. Ich stand in der Küche und machte mich daran, Kaffee zu kochen. Erika war von hinten an mich herangetreten, hatte mich umarmt und einen Kuss auf meinen Nacken gesetzt. Ich drehte mich um und küsste sie auf den Mund. Nora stand in ihrem langen Nachthemd auf der Schwelle zur Küche. Sie riss die Augen auf, presste ihre Lippen aufeinander, machte auf dem Absatz kehrt. Erika und ich schauten uns an und hoben fragend unsere Achseln. Ich schlich Nora hinterher. „Bist du jetzt lesbisch?“, fragte sie. „Ja“, setzte ich an, ihr alles zu erklären. „Ich weiß schon alles, Mama“, unterbrach sie mich. „Das hat uns Dani im Kindergarten erklärt. Ist nicht so schlimm.“

Etwa neun Monate pendelten Erika und ich zwischen Sachsen-Anhalt und Hessen und beschlossen an einem Adventsabend, diesem Zustand ein Ende zu bereiten. Pragmatisch kamen wir zu der Erkenntnis, dass ein Umzug von Gießen nach Magdeburg unkomplizierter und billiger sei. Nora war gerade in die Schule gekommen, meine unbefristete Stelle als Sachbearbeiterin im Landtag wollte ich nicht aufgeben. Erika war Fotografin und gerade arbeitslos.

Die ersten Wochen unserer gemeinsamen Zeit erlebten wir in einem Zustand narkotischer Berauschtheit. Ich ging zur Arbeit, den täglichen Stress nahm ich kaum wahr. Abends kochten wir, Nora lachte viel und konnte nach einem halben Jahr fließend lesen und schreiben. Für den Moment eines Augenaufschlags waren wir glücklich.

Ich selbst hätte es vermutlich erst sehr viel später wahrgenommen und bemerkte an meiner Tochter, dass etwas vor sich ging, was nicht gut sein konnte. Noras Fröhlichkeit war verschwunden, sie wich Erika aus und wurde blasser und dünner. Als ich sie eines Abends ins Bett brachte, fragte ich sie, ob etwas vorgefallen sei. In der Schule, im Hort oder hier zu Hause. Sie verneinte. Ich glaubte ihr nicht und begann, unseren Alltag zu durchleuchten. Nach und nach begriff ich, was in Nora vor sich ging. Erika sprach mit ihr und blieb mit ihr zu Hause, wenn ich abends weg musste. Aber sie beschäftigte sich nicht mit ihr, sie half ihr nicht bei den Hausaufgaben, sie las ihr keine Geschichten vor. Erika empfand das Leben mit einem Kind als merkwürdig. Und anstrengend. Sie nahm Nora in Kauf, weil sie nun einmal da war. Erika forderte meine gesamte Aufmerksamkeit, die ich ihr aber nicht geben konnte. Sie hatte noch immer keinen festen Job und hätte mir einiges abnehmen können. Das aber tat sie nicht. „Nora ist deine Tochter“, sagte sie. „Mach mich nicht für sie verantwortlich.“

Plötzlich erinnerte ich mich, welche Kämpfe die Frauen während der Vorbereitung zum FrauenStreikTag ausgefochten hatten, der im Übrigen ein Flop war. Während Ostfrauen bei allem, was sie taten, stets an Kinder dachten, weil sie welche hatten oder welche bekommen wollten, stritten Westfrauen darüber, ob Kinder die Frauenbewegung hemmen oder fördern. Sie spalteten sich in zwei Gruppen: in Frauen und in Mütter. Eine Schwangerschaft grenzte eine Frau automatisch aus, mit dem Sichtbarwerden der Frucht in ihrem Leib war sie zur Gegnerin geworden. Darüber wollte ich mit Erika reden. Sie aber herrschte mich an: „Was gibt’s da schon zu besprechen!“

Ein Satz, der mir signalisierte, dass sie ebenso wenig bereit war, über uns nachzudenken. Sie schien Konflikten generell gern aus dem Weg zu gehen. Ich vermutete, dass dies mit ihrer Kindheit zusammenhing, die sie am liebsten in einer zerbeulten Spielzeugkiste versteckt hätte. Erikas Eltern hatten sich scheiden lassen, als Erika sieben war. Ihre Mutter war mit der Erziehung überfordert und gab das Kind zur Großmutter. Die war schon alt und ließ ihrer Enkelin jeden Willen, was Erika in vollen Zügen ausnutzte. Jedes Kind hätte geprüft, ob es in Schranken gewiesen wird. Nie hat jemand zu Erika gesagt: „Das darfst du nicht!“ Sie musste sich nie rechtfertigen, verteidigen, kämpfen. Sie hat nicht gelernt zu streiten, und sie hat nie die Erfahrung gemacht, aus einer Auseinandersetzung gestärkt hervorzugehen.

Erika legte großen Wert darauf, dass alle auf ihre Bedürfnisse eingehen. Selbst Nora hatte sich danach zu richten. Ich beging den Fehler, nicht aufzubegehren. Ich schwieg und eignete mir Erikas Normen an. Ich richtete mich nach ihnen und verlernte, meine Sehnsüchte zu äußern. So wurde ich ähnlich konfliktscheu wie sie. Zunächst bemerkte ich es nicht, sondern richtete mich ein in Erikas Maßregelungen. Das hatte ich in der DDR gelernt. Ein Leben in autoritären Strukturen kann leichter sein als eines in der Demokratie.

In der Bestimmtheit, mit der sie unsere Kinobesuche vorgab, schleppte sie mich anschließend in die Kneipe. Wir bestellten Bier und rauchten. Sie erzählte und ich schwieg. Irgendwann nahm ich sie nur noch wie durch einen Schleier wahr, ich sah sie gestikulieren, aber hörte sie nicht. Sicher hatte ich nichts Wesentliches verpasst. Erika gab Gespräche so detailgetreu wieder, dass man meinen könnte, sie schrieb an einem Textbuch. Das Merkwürdige war, dass all diese Neuigkeiten völlig unwichtig waren, für mich und für unsere Beziehung. Ganz sicher auch für Erika. Sie redete und redete, doch was sie fühlte und dachte, woran sie zweifelte, was ihr Freude machte, das erfuhr ich nicht.

Wessis machen stärker als Ossis ein Geheimnis daraus, wie sie wohnen, welche politischen Leitlinien sie verfolgen, was sie sich wünschen. Mich stört es immer noch, dass das Gehalt ein erklärtes Tabu ist. Ossis klappen ihre Seele sicher nicht auf wie ein Buch, aber sie machen um sich und ihr Leben kein großes Geheimnis, wie es Wessis tun. Nach zwei Jahren mit Erika musste ich feststellen: Wir waren ein Paar, aber keine Gemeinschaft. „Erika, wir müssen miteinander reden“, versuchte ich es immer wieder. Meist ignorierte sie den Satz, manchmal sagte sie: „Später.“ Rückte das Später heran, fühlte sie sich nicht wohl oder war gerade dabei, ins Bett zu gehen. Ich wollte widersprechen, aber Erika bürstete meinen Versuch mit einem Satz vom Tisch: „Du musst ankündigen, wenn du mit mir reden willst.“

Hätte ich stets gesagt, was ich dachte, und getan, was ich wollte, hätten wir uns täglich gestritten. Oder uns eher getrennt. Sechs Jahre waren wir zusammen, die meiste Zeit davon war ich unglücklich. Wenige Monate vor dem Millenniumswechsel zog Erika aus. Nora war die Erleichterung über Erikas Auszug regelrecht anzusehen. „Sie hat nicht zu dir gepasst“, sagte sie eines Morgens beim Frühstück. „Du triffst bestimmt bald wieder eine andere.“

Meine jetzige Freundin kommt aus Stendal in Sachsen-Anhalt.

SIMONE SCHMOLLACK, 40, lebt als freie Autorin in Berlin. Ihren stark gekürzten Text entnehmen wir ihrem gerade erschienenen Protokollband „Deutsch-deutsche Beziehungen. Geschichten von der Liebe zwischen Ost und West“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 256 Seiten, 9,90 Euro