Ein Solitär im Torf

Ausstellung Das Paula-Modersohn-Becker-Museum zeigt Fotos der lange vergessenen Annelise Kretschmer – Torf ist auch dabei

Die Modefotografie als Weg zum Porträt Foto: Annelise Kretschmer/Christiane von Königslöw

von Karolina Meyer-Schilf

Dass jemand „eine der ersten Frauen“ war, die irgendetwas gemacht hat, ist immer ein schöner Aufhänger für eine Ausstellung. Bei Fotografie-Ausstellungen hört man diese Einleitung besonders oft: „Die erste Kriegsfotografin“, „die erste Frau, die ein eigenes Atelier in Wien hatte“ und so weiter. Und tatsächlich, der Beruf der Fotografin war in den 1920er-Jahren besonders modern und nicht so männerdominiert wie andere Bereiche in der Kunst, sodass Frauen leichter Zugang fanden und – ein schöner Nebeneffekt im Gegensatz etwa zur Bildhauerei – damit auch noch Geld verdienen konnten.

Auch Annelise Kretschmer gehört zu jenen „ersten Frauen“ in Deutschland, die ein eigenes Fotoatelier eröffnet haben – 1929 in ihrer Heimatstadt Dortmund. Sie lernte den Beruf von der Pike auf, gehörte schon bald zu den Shooting Stars – im wahrsten Sinne – der Weimarer Republik und war auf internationalen Fotoausstellungen vertreten. Dabei hatte sie nach eigenen Angaben keine fotografischen Vorbilder, gehörte trotz offensichtlicher Beeinflussung durch die Neue Sachlichkeit nie einer bestimmten Schule an und hat auch keine begründet. Kretschmer ist damit ein „Solitär“, wie Ausstellungskurator Thomas Linden sagt, und war einigermaßen folgerichtig dann auch lange vergessen.

Begonnen hatte sie ihre Karriere zunächst mit der Modefotografie: Ihre Familie besaß ein Modegeschäft in der Dortmunder Innenstadt, für das sie die neuesten Modelle und Stoffe fotografierte. Doch die Modefotografie war für Kretschmer nur ein Weg, um zum Porträt zu kommen – denn da lag ihre eigentliche Stärke.

Am frappierendsten ist das an ihren Kinderporträts zu sehen: Starke Anschnitte, das Gesicht absolut in den Mittelpunkt gerückt, porträtiert sie die Kinder einfach wie Erwachsene, fotografiert sie auf Augenhöhe oder leicht von unten. Kretschmer fügt ihnen kaum kindliche Attribute hinzu, und wenn sie es doch tut, wie bei ihrem vielleicht eindrücklichsten Kinderporträt von ihrer Tochter mit einem Brummkreisel, dann nimmt das Spielzeug zwar eine zentrale Stelle in der Bildkomposition ein und verdeckt sogar teilweise das Gesicht, doch die weit aufgerissenen Augen ihrer Tochter, auf die sich alles konzentriert, lenken den Blick auf die Person. Und genau das war es, worum es Annelise Kretschmer immer ging. Es gibt nur wenige Landschaftsaufnahmen in ihrem Werk. In Paris fotografierte sie nicht den Eiffelturm oder den Triumphbogen, sondern Straßenpflaster mit einer Treppe, Wände und Regentropfen auf einer Fensterscheibe. Diese Serie bildet gleichsam eine Ausnahme in ihrem Werk, das sich ansonsten ganz auf die Porträtfotografie konzentriert.

Sie fotografierte das, was Paula malte: Bauern und Torf

Geprägt hat sie dabei ein Vorbild aus der Malerei: Ihr Vater, ein Kunstsammler, besaß ein Bild von Paula Modersohn-Becker, das Kretschmer schon als Jugendliche stark beeindruckte. Das ist auch der (einzige) Anknüpfungspunkt für das Museum in der Böttcherstraße: Kretschmer, die als sogenannte „Halbjüdin“ sich und ihre Familie während der NS-Zeit irgendwie durchbringen musste – sie war die Ernährerin, während ihr Mann, Bildhauer Sigmund Kretschmer, die Kinder betreute –, war unter anderem auch mit Gerta Overbeck befreundet und verbrachte in den Jahren 1937/38 einige Zeit in Worpswede. Dort fotografierte sie das, was auch Paula Modersohn-Becker dort vorfand und malte: die bäuerliche Bevölkerung und den Torf.

Wenngleich das auch der einzige Zusammenhang zwischen Annelise Kretschmer und Paula Modersohn-Becker ist – es gibt abwegigere Begründungen für eine Ausstellung. Kretschmer selbst konnte nach 1933 an ihre frühen Erfolge in Publikationen und Ausstellungen nicht mehr anknüpfen und versuchte es nach eigenen Angaben auch nicht – somit ist und bleibt sie ein Solitär.

Bis 21. Mai im Paula-Modersohn-Becker-Museum