Der Versuch einer neoliberalen Wende

Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Rüttgers ist der Musterschüler Helmut Kohls. Wie der Altkanzler weiß er um die Sehnsucht seiner Wählerschaft nach Sicherheit – und setzt doch auf die neoliberalen Rezepte Angela Merkels

Jürgen Rüttgers‘ schwarz-gelbe Landesregierung wird Nordrhein-Westfalen verändern – auf die oft gewinnend, zunächst sanft wirkende Art, die der Rheinländer ausstrahlen will. Natürlich hat der politische Vollprofi Rüttgers im Vorfeld der Landtags- und dann der Bundestagswahlen alles vermieden, was potenzielle, gerade in NRW an der katholischen Soziallehre orientierte Wählerinnen und Wähler verschrecken könnte. Nordrhein-Westfalens CDU sei so etwas „wie das soziale Gewissen der Union“, warben enge Mitarbeiter des CDU-Spitzenkandidaten vor der Landtagswahl im Mai gern. Die Christdemokraten seien die effizientere SPD, sollte das wohl im Klartext heißen.

Und natürlich hat sich der Regierungschef im Vorfeld der Bundestagswahlen auf symbolische Politik beschränkt – Rüttgers steht loyal zu CDU-Bundeschefin Angela Merkel, würde ihr niemals in den Rücken fallen wie etwa CSU-Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, der Merkels Wahlchancen mit seien wüsten Hasstiraden auf frustrierte Ostdeutsche massiv beschädigte. Kaum merklich schien die Arbeit der Landesregierung bis zur Bundestagswahl – und doch zeigen die ersten 100 Tage deutlich, wohin die Reise geht: In Richtung der zum Neoliberalismus konvertierten CDU-Vorsitzenden Merkel.

Beispiel Wirtschaftspolitik: Rüttgers setzt auf mehr Eigenverantwortung der Bürger, auf einen schlankeren Staat, der gerade im sozialen Bereich bestenfalls eine Grundversorgung aufrecht erhalten kann – spricht aber von einem starken Staat: „Nordrhein-Westfalen kann mehr.“ Deutlich wird trotzdem: Gesellschaftliche Teilhabe ist in Rüttgers‘ Vorstellungswelt nicht Sache der Gesellschaft, sondern des Individuums, das dazu etwa durch bessere Bildung befähigt werden muss.

Beispiel Bildungspolitik: Jede und jeder sollen unabhängig vom Elternhaus studieren können, verspricht der Sohn eines Elektromeisters. Die Wirklichkeit sieht anders aus – selbst Bafög-Empfänger zahlen künftig Studiengebühren, junge Erwachsene mit nichtakademischer Herkunft werden vom Gang an die Hochschule abgeschreckt. Schon im Grundschulalter soll auf Druck des kleinen Koalitionspartners FDP künftig sozial gesiebt werden. Mit der beschlossenen Aufhebung der Schulbezirke können Eltern ihre Kinder in jede Schule ihrer Wahl karren. Beliebten Schulen mit gutem Lehrangebot werden in Zukunft Schulen gegenüberstehen, die beinahe ausschließlich von Kindern aus sozial schwachen, bildungsfernen Schichten besucht werden.

Beispiel Nachhaltigkeit: Jürgen Rüttgers verspricht eine solide Finanzpolitik, doch sein Finanzminister Helmut Linssen legt mit dem Nachtragshaushalt 2005 die höchste Neuverschuldung in der Geschichte Nordrhein-Westfalens vor. Ebenso inkonsistent ist die Energiepolitik der schwarz-gelben Koalition: Zwar wollen CDU und FDP mit den rückwärts gewandten Steinkohlesubventionen Schluss machen. Die Windenergie aber wird unter dem Schlagwort von der „Verspargelung der Landschaft“ aus optischen (!) Gründen bekämpft. Gleichzeitig steht Rüttgers zum niederrheinischen Braunkohlebergbau, der ganze Landstriche verwüstet.

Von einer möglichen großen Koalition im Bund gestoppt werden wird Jürgen Rüttgers nicht. Schon heute gibt sich die nordrhein-westfälische FDP handzahm, will nach den Worten ihres Vorsitzenden Andreas Pinkwart beweisen, „dass das Original besser ist“. In der Landespolitik hat der CDU-Ministerpräsident freie Hand und wird dies auch immer deutlicher nutzen – aller salbungsvollen Worte von „sozialer Balance“, von „sozialen Widerlagern“ (Rüttgers) zum Trotz. ANDREAS WYPUTTA