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Bohrende Fragen an das Dasein

LITERATUR Größer als die nackte Realität: der international gefeierte Roman „Ein wenig Leben“ der US-Autorin Hanya Yanagihara

Achtung, Buch macht süchtig: „Ein wenig Leben“ erzählt die Biografien von vier Männern, die sich im College kennenlernen und Freunde fürs Leben werden Foto: Brian Shumway/Redux/laif

von Katharina Granzin

Es ist auch schön, wenn es vorbei ist. Wenn man selbst wieder ein wenig leben kann, freigegeben von einer Lektüre, die einen so in den Bann zieht, dass sie Lebenszeit zu schlucken scheint wie ein schwarzes Loch. – Was, schon wieder drei Stunden vorbei? Kann nicht sein! – Nicht von ungefähr ist bereits eine Serie nach Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“ in der Produktionsmaschine.

Und wer weiß, vielleicht ist das neuerdings so offensiv epische Schreiben im amerikanischen Romansegment (der neue Paul Auster ist über tausend Seiten dick, während Yanagihara in der deutschen Übersetzung knapp unter der Tausendermarke bleibt) ja sogar eine mittelbare Folge der seit einigen Jahren so blühenden Serienkultur, die im filmischen Bereich neue narrative Maßstäbe gesetzt hat.

Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die Autorin eine spätere Serienverwertung etwa bereits im Hinterkopf gehabt haben mag, als sie den breit angelegten Roman schrieb – vieles im Aufbau ist nicht gerade serien­kompatibel angelegt.

Fantastisch gut erzählt

„Ein wenig Leben“ ist der zweite Roman der in New York lebenden Journalistin Hanya Yanagihara, deren berufliche Schwerpunkte im Lifestyle-Bereich lagen, bevor sie begann, als Belletristik-Autorin für Aufsehen zu sorgen. Bereits ihr erster Roman, „People in the Trees“ (2013), wurde sehr gelobt, ist bisher aber nicht in deutscher Übersetzung erschienen – die wird sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen. Mit „A Little Life“ folgte 2015 der ultimative Durchbruch. Es ist zweifellos ein großer Roman, auch wenn er vielleicht nicht jedem gefällt. Manches darin ist schwer zu ertragen, vieles mag man für übertrieben, zugespitzt, kitschig halten. Die Lifestyle-Expertise der Autorin scheint pausenlos und in zahllosen Details durch. In der amerikanischen Presse ist vereinzelt moniert worden, dass es dem Buch an einem realistischen Verhältnis zur gegenwärtigen Lebenswelt mangele. Das alles ist wahr. Aber spricht es wirklich gegen diesen fantastisch gut erzählten Roman? Absolut nicht.

„Ein wenig Leben“ erzähle die Geschichte von vier Freunden und lebenslanger Freundschaft, behauptet Yanagi­haras deutscher Verlag in seiner Ankündigung; und so ähnlich steht es auch hinten auf dem Buchcover. Das ist nicht falsch und trotzdem ein kleiner PR-Trick, denn es ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber eine Freundschafts- und/oder Liebesgeschichte lässt sich eben deutlich besser vermarkten, als es mit der Lebensgeschichte eines Mannes der Fall wäre, der seine gesamte Kindheit hindurch grausam missbraucht wurde und auch als Erwachsener niemals wirklich über das Erlittene hinwegkommt.

Allerdings treibt die Autorin erheblichen Aufwand, uns glauben zu machen, ihr Roman erzähle tatsächlich vor allem die Geschichte dieser wunderbaren Freundschaft. Lange Zeit geht es nämlich um genau das: Da gibt es diese vier jungen Männer, die im College zufällig in einem Zimmer wohnen und bei aller Verschiedenheit Freunde fürs Leben werden. Es gibt den so netten wie gut aussehenden Willem, der zu Beginn ein Junge vom Land ist und später ein berühmter Filmschauspieler werden wird. Den temperamentvollen, begabten und narzisstischen J. B., der als bildender Künstler Karriere macht. Den zunächst eher unscheinbaren Malcolm aus wohlhabendem Elternhaus, der später als erfolgreicher Architekt seinen Weg geht. Und als Vierten den geheimnisvollen, zurückhaltenden Jude, der keine Familie hat, brillant in allen Fächern ist und seine diversen Begabungen dennoch als Erwachsener in eine vergleichsweise unkreative, aber lukrative Laufbahn als Wirtschaftsjurist kanalisiert.

Yanagihara lässt sich Zeit, tief einzutauchen in die verschiedenen Lebenswelten der Freunde. Ob Willem, J. B. oder Malcolm: Jeder von ihnen wird so eindringlich vorgestellt, dass ebenso gut einer von ihnen die eigentliche Hauptfigur in einem Roman werden könnte. Doch es kommt anders. Zwei der vier Freunde werden letztendlich bloße Nebenfiguren in diesem Roman bleiben, der in erster Linie ein Roman über Jude ist.

Erst nach über 100 Seiten wird erstmals ein Kapitel aus Judes Perspektive erzählt, und auch wenn dies der vorherrschende Erzählmodus bleiben wird, dauert es lange, bis Judes Geheimnisse vollständig gelüftet sind. Aus dieser Spannung des Nichtwissens lebt der Roman zu einem großen Teil. Irgend etwas ist mit Jude in seiner Kindheit geschehen. Seine Freunde wissen nicht, was; niemand weiß es, am meisten ahnt noch der junge Arzt Andy, dem Jude lange Zeit als einzigem Menschen einen Blick auf seinen Körper gestattet. Einen Körper, der die Spuren langen Leidens trägt: sichtbare Narben auf der Hand; offene Wunden, die an seinen Beinen von Zeit zu Zeit aufbrechen; Schwierigkeiten, normal zu gehen; furchtbare Schmerzattacken. Sommers wie winters trägt Jude auch als Erwachsener noch lange Ärmel, um zu verbergen, dass seine Arme vom vielen Ritzen völlig vernarbt sind.

Die Geschichte von Missbrauch und Gewalt, die hinter Judes physischer und psychischer Beschädigung steht, wird im Laufe des Romans nach und nach aufgedeckt. Sie überschattet die gleichzeitig ablaufende Erzählung eines überaus geglückten Erwachsenenlebens in einem perfekten sozialen Umfeld. Jude hat die besten Freunde der Welt, findet berufliche Anerkennung, Liebe und sogar, im Alter von 30 Jahren, noch Eltern, als einer seiner ehemaligen Professoren ihn adoptiert. Aber die Dämonen der Vergangenheit zu bannen, erweist sich als geradezu übermenschliche Aufgabe.

Irgendetwas ist mit Jude in seiner Kindheit geschehen. Seine Freunde wissen nicht, was; niemand weiß es

Es sind vor allem zwei Aspekte, die Yanagiharas Roman zu einer so fesselnden Lektüre machen. Zum einen gelingt es ihr unglaublich gut, Menschen so eindrücklich von innen heraus zu schildern, dass die Identifikation mit den Charakteren außergewöhnlich leicht fällt und tiefere emotionale Spuren gräbt als üblich. Der fulminante multiperspektivische Ansatz des Anfangs wird allerdings im Romanverlauf abgelöst von einer loseren Abfolge von Perspektivwechseln, die schließlich fast nur noch die Funktion haben, die Hauptfigur – Jude – auch in Außensicht zu zeigen.

Das zweite große Faszinosum dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte liegt in dem hochdramatischen Kontrast zwischen dem erlittenen Grauen in der Vergangenheit und dem geradezu märchenhaften Lebensumfeld des erwachsenen Jude, der von wahnsinnig tollen, außergewöhnlichen Menschen umgeben ist, die ihn alle lieben; der in wahnsinnig tollen, außergewöhnlichen Behausungen lebt, erlesene Kunstgegenstände sein Eigen nennt und sich Urlaub in den entlegensten Weltgegenden leisten kann. Ein beispielhaftes amerikanisches Luxusleben, das trotz allem durchlebtes Leid nicht ungeschehen machen kann.

Der Mensch ist einverletzliches Wesen

Yanagihara vorzuwerfen, sie beziehe sich in ihrem Roman zu wenig auf die reale Gegenwart – und das tut sie wirklich nicht –, ginge völlig am Thema ihres Romans vorbei, das schlicht größer ist als die nackte, aktuelle Realität. Dieses Buch stellt bohrende Fragen an das Leben selbst: an den Menschen in seinem Bemühen um „ein wenig Leben“, vielleicht ein wenig Glück. Manchmal, erzählt es, reicht alles, was genug für ein gelingendes Leben sein sollte – Glück, Erfolg, Liebe, Freundschaft –, vielleicht trotz allem nicht aus. Denn der Mensch ist ein verletzliches Wesen, und seine Fähigkeit, sich aus den Verheerungen eines ihm zufällig zugeteilten Schicksals zu befreien, ist einerseits enorm, in letzter Konsequenz aber begrenzt.

Wahrscheinlich ist das ein zutiefst unamerikanischer Gedanke. Hanya Yanagihara erzählt ihn sehr konsequent aus. Dass man ihr dabei so bedingungslos folgt, heißt wahrscheinlich, dass der Mensch doch bis zuletzt nie die Hoffnung aufgeben möchte.

Hanya Yanagihara: „Ein wenig Leben“. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin, Berlin 2017, 960 S., 28 Euro

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