Außenseiter-Fernsehen

TV-Geschichte Der ARD-Film „Im Reservat“ von 1973 verschränkt die Themen schwules Leben und Gentrifizierung

Mode formt als soziales Zeichensystem Identität und definiert Abgrenzung, vor allem für Transvestit Alfred Bergmann (rechts) Foto: Deutsche Kinemathek

von Fabian Tietke

Im Sommer 1973 zeigte die ARD Peter Beauvais’ Fernsehfilm „Im Reservat“. Er handelt vom Alltag zweier Außenseiter – den der alten Frau Minkwitz und des Transvestiten Alfred Bergmann, der bei ihr zur Untermiete wohnt. In der Auseinandersetzung mit der feindlichen Umgebung haben sich die beiden in der Wohnung von Frau Minkwitz ein Refugium geschaffen. Alfred übernimmt Kleider aus vergangenen Zeiten, die Frau Minkwitz aussortiert, und hilft ihr dafür im Alltag und mit Ratenzahlungen, die sie selbst nicht mehr schafft. Doch das Refugium ist bedroht: die Räumungsaufforderung ist überfällig.

Regisseur Peter Beauvais und Drehbuchautor Peter Stripp führen in „Im Reservat“ zwei aktuelle Konflikte zusammen. Fünf Monate bevor er zum ersten Mal in der ARD lief, wurde Rosa von Praunheims für den WDR produzierte Fernsehfilm „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ ins Programm genommen.

Während von Praunheims Manifest zum schwulen Leben in der BRD auch die formalen Grenzen des Fernsehfilms auslotete, bewegte sich „Im Reservat“ stärker in den Formatvorstellungen eines Fernsehfilms, setzte auf durchgängige Narration und die schauspielerische Leistung seiner beiden Protagonisten Johanna Hofer (Frau Minkwitz) und Wolfgang Kieling (Alfred Bergmann).

Eben dadurch gelingt es Beauvais und Stripp jedoch, die Thematisierung schwulen Lebens mit der damals – wie heute – hoch aktuellen Debatte um Stadtsanierung zu verschränken. Eigens für den Umzug reist Minkwitz’ Tochter in Berlin an – und zeigt ihrer Mutter freudig eine Wohnung in einem Neubaugebiet. Kühl erwidert die Mutter, dass sie doch lieber in Berlin bleibt.

Wenig erwartungsvoll fragt Alfred Bergmann in einer Wohnungsvermittlung nach einer Wohnung, lehnt die angebotene Einzimmerwohnung in einem Neubau ab und fragt nach einer Altbauwohnung für sich und Frau Minkwitz. Verständnislos kühl schiebt der Angestellte der Wohnungsvermittlung die Karteikarte zurück in den Kasten und erwidert beinahe angewidert, dass sie so was nicht haben.

Die in den 1970er Jahren übliche Kahlschlagsanierung, die erst durch den Widerstand von Mieterinitiativen infrage gestellt wurde, zerstörte – teils intendiert, teils unbeabsichtigt – die Lebensräume unzähliger Berlinerinnen und Berliner. Indem die Filmemacher die beiden Zeitthemen schwules Leben und Stadtsanierung verschränken und zugleich zwei Hauptdarsteller fanden, die diese Geschichte lebendig umsetzen konnten, gelingt ihnen ein mustergültiger Fernsehfilm mit aktuellem Bezug.

Zeitgenössisch steht der Film für die Fortentwicklung des sogenannten Themafilms, mit dem das öffentlich-rechtliche Fernsehen ab Mitte der 1960er Jahre weg wollte von den zunehmend angestaubten Theaterverfilmungen und Studioproduktionen, die den Fernsehfilm prägten. Rückblickend bleibt ein fahler Beigeschmack, dass Filme wie „Im Reservat“ vorrangig über Lebenswirklichkeiten berichten und diese narrativ aufbereiten und weniger den Menschen, deren Lebenswirklichkeiten den Film ausmachen, eine Stimme verleihen.

„Im Reservat“ bewegte sich streng in den Formatvorstellungen eines Fernsehfilms

Eben diese Enteignung der Professionalität von Fernsehmachern dürfte diese Tendenz bis in die 1980er Jahre hinein so erfolgreich gemacht haben. Diese fernsehhistorische Entwicklung ist nur eine von vielen, die sich an den Arbeiten des heute weitgehend vergessenen Regisseurs Peter Beauvais nachvollziehen lässt.

Umso erfreulicher, dass die Deutsche Kinemathek und die Akademie der Künste, die den Nachlass von Peter Beauvais hütet, dem gebürtigen Franken, der aus dem Exil in den USA 1946 nach Deutschland zurückkehrte, einen Buchband gewidmet haben. Unter dem Titel „Peter Beauvais. Vielfalt als Konzept“ versammelt er vier Texte nebst hilfreichem Werkverzeichnis und Chronik, die das Leben und Werk erschließen.

Trotz rückblickender Vorbehalte ist „Im Reservat“ eine ideale Wahl, um sich dem Schaffen des Regisseurs zu nähern: dem Werk eines engagierten Mannes, der schon allein für die Wahl seiner Themen eine größere Aufmerksamkeit verdient.

Im Reservat: 26. 1.: Zeughauskino, Unter den Linden 2, 20 Uhr

Der Band „Peter Beauvais. Vielfalt als Konzept“ wurde herausgegeben von Wolfgang Jacobsen und Nicky Rittmeyer und ist erschienen bei Edition Text + Kritik