: Gefährliche Menschen
Beim Deutschen Werkbundtag analysiert Sozialphilosoph Oskar Negt die Zukunft der Arbeit. Sein Befund: Im Grunde sind utopische Zustände greifbar. Bloß: Warum merken wir nichts davon?
von Jens Fischer
Sie wollen alles. Die Künstler, Designer, Architekten, Wissenschaftler und Unternehmer des Werkbundes versuchen seit der Gründung ihrer Reformbewegung (1907) die bürgerlich-aufgeklärte Interpretation russischer Revolutionsideale in der Gesellschaft zu verankern. Statt des Blutes radikaler Umstürzlerei vergießen sie den Schweiß gezielter Lobbyarbeit: Dem Werkbund geht es um die Einheit von ästhetischem, ethischem und volkswirtschaftlichem Denken. Angestrebt wurde die Produktion formschön gestalteter, hochwertiger und marktgängiger Waren durch sozial befriedigte Menschen im verantwortungsvollen Umgang mit der Natur.
Damit war lange vor dem ersten Turnschuhauftritt grüner Politik das Ideal einer ökologischen Ökonomie theoretisch formuliert. Diesbezüglich mischt sich der Werkbund seither in alle gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ein. Und lobt zur Eröffnung des Werkbundtages 2005 in Bremen, dass dort einige Werkbundideen bereits in die Praxis übersetzt wurden: der Respekt vor der Geschichte als stadtplanerische Qualität der City, der Gartenstadtgedanke in der Mustersiedlung Vahr, die Umwandlung von Kasernen zu Orten des Lernens und Wohnens bei der International University of Bremen und die Wiederbelebung von Industriebrachen, womit wohl der Veranstaltungsort gemeint ist, der zur Kunsthochschule umgebaute Speicher XI am Holzhafen.
Das Tagungsmotto: „Provokation Zukunft“. Besonderen Stellenwert nimmt dabei das Thema „Arbeit“ ein. Prominentester Redner ist der Hannoveraner Sozialphilosoph Oskar Negt, der „Die Zukunft der Arbeit“ zu analysieren hat. Er stellt fest, dass immer weniger Menschen mit immer weniger lebendiger Arbeitskraft immer mehr gesellschaftlichen Reichtum produzieren, so dass der Arbeitsgesellschaft die (Lohn-)Arbeit ausgehe. So könnten wir uns Thomas Morus „Utopia“ nähern, wären befreit von der Mühsal körperlicher Anstrengungen zur Existenzerhaltung. Bloß: Warum merken wir nichts davon?
Weil, so Negt, vom gesellschaftlichen Reichtum nur ein Drittel der Bevölkerung profitiere, die Angestellten in Lohn und Brot. Die im „sozialdarwinistischen Überlebenskampf“ von Job zu Job hetzenden Menschen, das zweite Bevölkerungsdrittel, würden genauso wenig beteiligt wie die Arbeitslosen. Negt: „In den Siebzigern hieß es, die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.“ Anno 2005 seien die Gewinne von heute aber die Arbeitslosen von morgen, da vornehmlich in Stellenabbau investiert werde. Die deutsche Wirtschaft habe neben Japan den größten Exportanteil in der Welt, mache Gewinne wie nie. „Es gibt keine ökonomische Krise“, so Negt, „aber trotzdem Arbeitsplatzabbau.“
Stattdessen müsste es zu Arbeitszeitverkürzungen kommen, um mehr Menschen an den Gewinnen der Unternehmen zu beteiligen und das Minimum für eine menschliche Existenzweise zu sichern. „Grundskandal“ unseres Gemeinwesens sei, so Negt, dass die Logik des Kapitals zum ersten Mal so funktioniert, wie es Marx beschrieben habe, nämlich „als ein von allen Hemmungen und sozialstaatlichen Blockaden unabhängiges System“ – das Massenarbeitslosigkeit produziere. So drohe Deutschland eine „kulturelle Erosionskrise“, da Erwerbsarbeit weiterhin ein wesentliches Medium sozialer Anerkennung und individueller Vollwertigkeit darstelle.
Trenne man Menschen gewalttätig von ihrem Arbeitsplatz, so Negt, werde das als Angriff auf die persönliche Integrität erfahren: „Ausbeutung durch entfremdete Arbeit ist schlimm, aber schlimmer ist es, nicht mal mehr für die Ausbeutung gebraucht zu werden.“
Zentrales Problem sei daher das heute propagierte Menschenbild. Die Industrie verlange nach anpassungsfähigen, jedes Eigensinns beraubten, jederzeit verfügbaren Mitarbeitern. Dieser völlig ins Funktionale abgerutschte Mensch sei der leistungsbewusste Mitläufer von heute, „ein gefährlicher Mensch“, da er keine innerlichen Bindungen an Land, Menschen, Beruf, Produktionsprozess mehr verspüre, was unzufrieden mache, Gewaltpotenziale freisetze. Andererseits sei drohende Arbeitslosigkeit ein ebenso gefährlicher „Angstrohstoff“. Negt: „Wer heute Rationalisierungsmaßnahmen befürwortet, muss wissen, dass damit die Kosten nur verschoben werden. Wir zahlen später drei mal so viel drauf für die Desozialisierungsfolgen – beispielsweise den Bau von Gefängnissen.“
Lösung des Problems wäre die Erweiterung des Arbeitsbegriffs. Künstlerische, pflegerische, der Qualität des Zusammenlebens förderliche Tätigkeiten, die direkt keinen Mehrwert schöpfen, müssten gesellschaftlich genauso akzeptiert werden, da sie wichtig fürs Gemeinwesen und die Identitätsbildung seien. Das käme einer Revolution des kapitalfixierten Arbeitsethos gleich, bedinge andererseits eine „Reform unseres Herrschaftssystems“.
Wie das ohne oktoberrevolutionsähnliche Blutbäder gelingen könnte, wusste auch Negt nicht zu erläutern, forderte nur werkbundgemäß: „Ökologisches Denken für ein verantwortungsvolles Miteinander“.