Berliner Szenen: Arbeiten und schlafen
Weise alte Damen
Auf dem BVG-Schiff, das von Alt-Kladow zum S-Bahnhof Wannsee übersetzt, unterhalten sich zwei ältere Damen. „Jeden Tag nichts als arbeiten und schlafen, arbeiten und schlafen. Und das alles machen sie für viel Geld und ein Wochenende, an dem sie dann auch nur schlafen, um die kommende Woche auf der Arbeit zu überstehen. Das ist doch krank!“, sagt die eine mit spitzer Stimme.
Die andere schüttelt den Kopf und sagt: „Ach, reg dich doch nicht auf!“ Das ist bei meinen beiden dasselbe. Ich frag mich ja immer, wofür, aber die Kinder sind damit glücklich. Die definieren sich heutzutage doch alle über ihre Arbeit. Und da gibt es, scheint’s, ja nur noch 60-Stunden-Wochen oder Arbeitslosigkeit.“
„Ob man mit einer 60-Stunden-Woche aber glücklich sein kann?,“ fragt die andere, zieht die aktuelle Ausgabe des Spiegels aus ihrer Tasche, blättert darin und tippt auf eine Seite: „Der Autor in dem Artikel da kommt nach dem Sichten einer Langzeitstudie unter Neureichen und Altreichen zu dem Schluss, dass die meisten Reichen so unglücklich werden von ihrem Geld, dass es besser wäre, sie würden es abgeben.“
Beide lesen gemeinsam den Artikel, dann sehen sie stillschweigend aufs Wasser. Nach einer Weile sagt die eine mehr zu sich selbst: „Da hatten wir’s früher doch besser, gar nicht erst all die Möglichkeiten zu haben. Wir hatten noch nicht die Wahl, ob wir uns totarbeiten oder außen vor bleiben wollen“, und nestelt, während sie spricht, am Verschluss ihrer Armbanduhr.
„Dafür mussten wir uns auch nicht grämen, was wir alles verpasst haben“, meint die andere mit einem Lächeln. „Ich möchte ja nicht mit meinen Enkeln tauschen und diese ständigen Entscheidungen treffen müssen. Ich weiß nicht, was ich wählen würde: 60 Stunden oder arbeitslos…“ Eva-Lena Lörzer
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