Stadtgespräch: Saufen, was da ist
In Sibirien schmeckt Alkohol auch ohne Wodka. Variationen auf ein russisches Nationalgut
Jewgenija Skarednewa Aus Irkutsk
Irkutsk, 5.000 Kilometer östlich von Moskau, früher Morgen. Der Bus der Linie 42 fährt vom nördlichen Stadtteil Nowo-Lenino Richtung Flughafen, 30 Kilometer durch die Stadt. Im Radio laufen die Nachrichten. „Infolge der Vergiftung durch den Badezusatz ‚Weißdorn‘ sind in Irkutsk 63 Menschen gestorben“, hört man. „Der verhängte Notstand wird auf das gesamte Irkutsker Gebiet ausgeweitet. Der Verkauf von alkoholhaltigen Produkten, die nicht zum Verzehr geeignet sind, ist streng verboten.“
Die Fahrgäste hören aufmerksam zu. „Das verstehe ich nicht“, sagt aufgeregt eine junge Frau mit Brille. „Warum haben all diese Menschen Parfüm getrunken? Ich würde nie auf die Idee kommen, morgens mein Gesichtswasser zu mir zu nehmen!“
„Kindchen, diesen Dreck hat man immer schon konsumiert“, antwortet ihr ein betagter Mann mit Pelzmütze. „Als ich so jung war wie du, hat sich keiner darüber aufgeregt. Und nicht nur Gesichtswasser. Auch Fensterputzmittel. Und Frostschutzmittel.“
„Aber wieso?! Konnte man nicht einfach ganz normalen Wodka kaufen?“
„Natürlich konnte man das. Aber er war teuer. Und die Läden haben früh geschlossen, nach der Arbeit war es schon zu spät. Im Restaurant gab es noch welchen, der war aber noch viel teurer. Deswegen hat man gesoffen, was gerade da war. Wahre Wunder an Einfallsreichtum! So macht man das bis heute.“
„Es geht hier nicht um den Weißdorn“, mischt sich ein jüngerer Mann ein. „Die Weißdorntinktur wird mit Ethylalkohol hergestellt. Die kann man noch trinken. Die besagten Flaschen enthalten aber stattdessen Methanol, das ist pures Gift. Diesen Unrat hat man nicht in einer Fabrik hergestellt, sondern auf irgendeiner Datscha! Gepanscht, abgefüllt, und los geht’s zum Verkauf unter der Theke!“ Er weist darauf hin, dass manche der Vergifteten ganz normalen Wodka getrunken haben wollen.
„Würdest du etwa einem Journalisten oder Arzt gestehen, dass du Badezusatz getrunken hast?“, kontert der Betagte. „So was saufen doch nur totale Krücken. Man schämt sich, dazuzugehören. Es ist peinlich, zu sagen, dass man kein Geld für anständigen Alkohol besitzt.“
„Heißt das etwa, dass es sich um einen Mordanschlag handelt? Einen Terrorakt?!“ Eine Dame in dickem rotem Wattemantel ist ganz außer sich. „Das wohl kaum“, antwortet jemand. „Alkohol wird teurer, das Portemonnaie leichter.“
„Dazu fällt mir ein Witz ein“, sagt ein anderer Mann: „Papa, ich habe im Radio gehört, dass der Wodka 100 Rubel teurer wird. Heißt das, dass du jetzt weniger trinken wirst? Der Vater antwortet: Nein, Sohnemann, das heißt, dass du jetzt weniger zu essen bekommst.“
„Das ist überhaupt nicht zum Lachen“, empört sich die junge Frau mit Brille. Die Wattemantelträgerin lässt nicht locker. „Im Fernsehen erzählen sie, dass die Zahl der Alkoholiker im Lande abnimmt. Sind das alles Lügen?“ Der Betagte weiß: „Nicht unbedingt. Jemand wird geheilt, jemand kratzt ab. Außerdem geht nicht jeder zum Arzt.“
„Der Alkohol soll auf der Stelle verboten werden!“ Die Frau gerät in Rage. „Dann ist das Problem vom Tisch.“ „Leicht gesagt“, erwidert der Alte. „Können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen dann auf der Straße landen? Wo sollen all die hin, die in den Wein- und Wodkafabriken arbeiten? Außerdem wird der Alkohol nicht einfach verschwinden. Der Fusel wird dann in jeder Garage hergestellt, mit den Folgen, die wir jetzt haben.“
„Wieso regt ihr euch eigentlich alle so auf?“, wirft ein junger Mann ein. „Ein paar Nichtsnutze sind dahingerafft, na und? Sie haben nichts Besseres verdient.“ „Schäm dich, Junge!“, ruft der betagte Mann mit der Pelzmütze, empört. „Das sind doch auch Menschen. Sie haben bestimmt nicht zu saufen angefangen, weil sie ein schönes Leben haben. Sie sollen einem leidtun.“
„Dann lassen Sie doch Ihr Mitleid walten!“, entgegnet der junge Mann. „Lesen Sie einen Obdachlosen auf, schrubben Sie ihn ab, geben Sie ihm zu essen und besorgen sie ihm Arbeit. Ansonsten hören Sie bitte schön mit Ihrem Leidtungejammer auf!“
Eine Weile ist es im Bus ganz still. Dann seufzt jemand von den hinteren Bänken. „Solange wir die Sauferei als unser Nationalgut verniedlichen, wird sich nichts grundlegend ändern.“
Aus dem Russischen von
Irina Serdyuk
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