: „Das ist eben auch ein Teil dieser Kultur“
Der Schriftsteller und Schauspieler Aras Ören lebt seit 35 Jahren in Berlin. Auch ihn überraschen die Ehrenmorde. Deutschland und die Türkei hätten die Migranten aber zu sehr ermuntert, ihre traditionelle ländliche Kultur in der Großstadt zu bewahren
INTERVIEW ALKE WIERTH
taz: Herr Ören, Sie haben sich in manchen Ihrer Bücher und Filme intensiv mit der Lebenswelt und den Gefühlen türkischer Migranten befasst. Können Sie verstehen, wie es zu solchen Familientragödien wie dem Mord in der Familie Sürücü kommt?
Aras Ören: Ich bin sicher, die Täter empfinden keine Schuldgefühle über das, was geschehen ist. Auch der Täter ist ein Opfer. Auch der Vater. Die ganze Familie ist das Opfer ihrer eigenen Tradition, ihrer Ehrvorstellungen. Und ich bin sicher, dass die Täter, die Familie sich nicht schuldig fühlt. Es gibt keine Sünde, also gibt es keine Strafe, Strafe ist sinnlos. Wenn man innerlich sagt, ich bereue nicht, was ich getan habe, das war die Sitte, dann führt man keine innere Auseinandersetzung mich sich selbst, dann zeigt man keine Reue. Ich erwarte so was nicht. Sie haben in ihrer Vorstellung richtig gehandelt.
Aber es war doch die eigene Schwester, die eigene Tochter.
Ich kenne die Sitten der ländlichen Osttürkei, aus der diese Familie stammt, nicht so gut. Aber dass die Töchter als ein bisschen minderwertig betrachtet werden, gilt für die Landbevölkerung der Türkei im Osten ebenso wie im Westen. Zum Beispiel bei den Erbschaften, da kriegen sie immer die schlechten Teile der Ländereien. An der türkischen Westküste hat das ironischerweise dazu geführt, dass die Töchter heute oft wohlhabender sind als die Söhne: sie haben immer die Grundstücke an der Meeresseite bekommen, weil man wegen des salzigen Windes dort keine guten Gärten oder Äcker anlegen konnte. Durch den Tourismus sind dann manche reich geworden. Aber diese Bauerngesellschaften, die brauchten immer eher die männliche Arbeitskraft. Die Mädchen arbeiten zwar auch, aber die heiraten irgendwann und gehen weg. Die gehören deshalb von Anfang nicht so direkt zur Familie.
Aber von solchen Traditionen abgesehen gibt es doch auch Liebe in einer Familie?
Die Familie ist eben nur die kleinste Einheit. Meistens passieren solche Taten, weil die Familien sauber bleiben wollen in den Augen der Nachbarn und der anderen Familien, um nicht aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Deshalb flüchten in Anatolien Liebespaare, die nicht den Segen der Eltern haben, oft in die Anonymität der Großstädte. Dann sind beide Seiten zufrieden. Denn man kann sagen, wir haben die Spur unserer Tochter verloren, wir können nichts machen. Dann muss kein Mord geschehen.
Ein Mord aus Ehre, das erscheint wie ein Opfer: ein Menschenopfer wird erbracht, um eine Regelverletzung wieder gutzumachen.
Ich glaube, die Leute denken nicht so weit, so tief. Die denken, wir haben es so gelernt, wir müssen so handeln. Diese Stämme haben seit 1.000 Jahren ihre Lebensweise nicht sehr verändert. Wenn Druck von außen kommt und es bröckelt, dann wird die Tradition erst noch intensiver: Man muss die Sitten verteidigen, um sie nicht zu vergessen.
Dass so etwas hier geschieht – bewegt Sie das als aus der Türkei stammender Berliner?
Es bewegt mich, aber nicht, weil ich selbst aus der Türkei stamme. Es überrascht mich ebenso wie die Deutschen, wenn plötzlich hier so etwas geschieht. Früher, als es solche Taten nur in den ländlichen Gebieten in der Osttürkei gab, hat das niemand richtig wahrgenommen. Aber durch die Migration vom Osten in den Westen tragen die Zuwanderer auch ihre Traditionen, ihre Moral- und Ehrvorstellungen dorthin, und plötzlich gibt es solche Morde vor den Augen der Öffentlichkeit. Das passiert auch in den türkischen Großstädten. Und Berlin – das ist natürlich noch extremer, mitten in einer aufgeklärten, modernen europäischen Gesellschaft. Aber es gibt eben keine Einheitskultur mehr. In der ganzen Welt nicht. Es gibt verschiedene kulturelle Zeiten, die nebeneinander am gleichen Ort existieren. In Berlin leben wir in einer bestimmten kulturellen Zeit, aber es gibt viele Migranten oder Zuwanderer aus anderen kulturellen Zeiten. Und die bringen ihre Gebräuche, ihre Traditionen, ihre Sitten mit. Irgendwann merken sie, dass das hier bröckelt, der Putz dieser alten Mauern, und dann verteidigen sie es noch hartnäckiger, ihr Ausland, die Reste ihrer traditionellen Identität. Ich bin sicher, dass es ein paar Generationen später solche Fälle nicht mehr geben wird.
Ist es im Grunde also Rückständigkeit?
Es ist Rückständigkeit. Aber das ist auch ein bisschen die Schuld der hiesigen Ausländerpolitik.
Inwiefern?
Sehen Sie, ich bin von Anfang an hier, als der erste türkische Gastarbeiter nach Berlin kam, war ich Zeuge. Und in der ersten Generation, da gab es solche Taten nicht. Denn die ersten türkischen Zuwanderer, die hierher kamen, die hatten eine Vision, die hatten ein Ziel, und die haben sich nie gefragt: Wer bin ich? Was werde ich hier? Die haben sich sehr gut angepasst. Ich erinnere mich, dass in den 60er-Jahren das Café Kranzler der Treffpunkt vieler allein stehender türkischer Männer war. Damals gab es keine Ghettos oder so was. Die erste Generation war auch sehr gut integriert in die Arbeitswelt. Obwohl viele von denen hier zum ersten Mal eine Fabrik von innen gesehen haben, und manche auch von außen, waren sie zum Beispiel in den Gewerkschaften stark vertreten. Das ist für mich ein Zeichen für eine gute Integration. Das hat sich aber nach und nach geändert, und das war ein Fehler der Ausländerpolitik.
Warum hat es sich geändert?
Es hat gehapert im Sozialleben. Vor allem die zweite Generation hat da große Enttäuschungen erlebt. Die konnten ja meistens gut deutsch, denn sie waren hier geboren oder als kleine Kinder gekommen. Und fast alle waren in Kitas, denn die Eltern arbeiteten ja, und damals gab es noch keine Omas und Opas hier, um auf die Kinder aufzupassen. Dennoch sind auch die Zuwanderer der zweiten Generation in den Augen der Einheimischen Ausländer geblieben. Und da haben sie sich gesagt: Ich werde wie ein Ausländer behandelt – dann will ich meine Kinder in meiner eigenen Tradition erziehen, will mit der deutschen Gesellschaft nichts zu tun haben. Das ist ein bisschen wie eine Trotzreaktion. Dazu kam immer stärker noch die Ausgrenzung durch wachsende Arbeitslosigkeit.
Wieso hat denn die Integration nicht geklappt?
Ich glaube, im Grunde haben die Einheimischen gedacht, wir sind sehr demokratisch, wir sind sehr liberal, und wenn jetzt welche kommen aus einer anderen Kultur, dann müssen wir großzügig sein und ihnen helfen, diese Kultur zu bewahren. Man hat nicht geguckt, was für eine Kultur die bringen, die Stammeskultur, die ländliche Kultur. Das war der Knackpunkt. Das war falsch. Denn mit einer ländlichen, halb feudalen Kultur kann man nicht in einer großen Industriestadt leben. Jetzt stehen wir ganz überrascht da und fragen uns, wie es zu solchen Morden kommen kann. Ja, das ist eben auch ein Teil dieser Kultur!
Gab es Fehler nur auf deutscher Seite?
Die Türkei hat den gleichen Fehler gemacht, hat die Auswanderer aufgefordert, ihre Traditionen nicht zu vergessen. So ist die Kluft zwischen den Kulturen größer geworden. Da waren sie nun hier mit ihrer eigenen Kultur, haben sich ihre eigenen Parallelgesellschaften aufgebaut und eben auch ihre Traditionen gelebt. Aber das passt nicht hierher. Als Intellektueller, als Schriftsteller würde ich sagen, von solchen Traditionen muss man Abschied nehmen. Mord ist Mord und da dürfen keine ideologischen oder ethischen oder Glaubensgründe berücksichtigt werden. Es gibt ein Strafgesetzbuch und danach muss geurteilt werden. Da müssen wir hart und fest bleiben.