piwik no script img

Einführung in die Emotionalität

AUSSTELLUNG Der Künstler Nasan Tur führt mit der Schau „Funktionieren“ in der Galerie Blain Southern auf analytische Weise vor, wie ein Kunstwerk entsteht, zudem untersucht er unseren medialen Alltag

VON Lorina Speder

Die aktuelle Ausstellung des Künstlers Nasan Tur bei Blain Southern heißt „Funktionieren“. Wenn etwas, also ein Gegenstand oder eine Anlage funktioniert, ist das grundsätzlich positiv. Sollte damit aber ein Mensch gemeint sein, der funktioniert, hat das einen leicht negativen Unterton. Auf beide Wortbedeutungen geht der in Berlin lebende Künstler in seinen neuen Werken auf den zwei Etagen der Galerie an der Potsdamerstraße ein. Die erste Installation in der 40 Meter langen Galerie-Halle des Erdgeschosses ist eine Druckerwerkstatt. Dort zeigt Tur, wie ein Kunstwerk entsteht. Der gesamte Prozess, den ein Werk durchläuft, wird abgebildet.

Traditionelle Technik

Freitags und samstags arbeitet der Künstler persönlich mit seinen Mitarbeitern in der Werkstatt und führt dabei vor, wie ein traditioneller Holzschnitt angefertigt wird. Mit dieser uralten Reproduktionstechnik druckt Tur Slogans wie „Empathy Is Naive“ oder „Control Is Necessary“. Davon lassen sich beliebig viele Abzüge produzieren. Durch ölbasierte schwarze Farbe werden die zuvor bearbeiteten Buchstabenblöcke auf das Papier transportiert, das dann zum Trocknen aufgehängt werden muss. Wird jeder der Arbeitsschritte sorgfältig ausgeführt, funktioniert der Prozess. Jeder Teil der Installation, also auch die fertigen Holzschnitte, die Drucke, oder die gesamte Installation kann erworben werden.

Tur ist vor allem an den konträren Verbreitungsmethoden der Nachrichten in alter Herstellungsweise und den sozialen Medien interessiert. Der Kontrast soll einen bewussteren Zugang zu den Worten ermöglichen. Heutzutage würde man Turs Slogans nämlich am ehesten als Eintrag auf Facebook erwarten. Der Künstler fordert durch die Verlangsamung des Herstellungsprozesses eine ausführlichere innere Auseinandersetzung mit den Statements – etwas, das ein „Gefällt mir“-Klick im Netz oftmals nicht symbolisiert. In der oberen Etage versucht Tur wie er selbst sagt, mit der „Ohnmacht des Verarbeitens von tagespolitischen Ereignissen“ klarzukommen. Durch die Medien seien wir täglich mit Zahlen von Getöteten und anderen tragischen Vorfällen konfrontiert. Es sei sein innerer Anspruch, diesen nackten Zahlen, die in den Nachrichten eher abstrakt klingen, mehr Beachtung zu schenken. So begann er im letzten September eine Serie, in der er die Anzahl der Toten, das Datum der Nachricht und den Ort des Geschehens auf Blättern verewigte. Die großen gemalten Zahlen aus anthrazit-blauer Aquarellfarbe, die von einem, drei oder mehr als 700 Opfern sprechen, sind in der Galerie neben zwei großen Bildern platziert, die den Titel „Sea View“ tragen. Der romantische Begriff, der oft mit einem teureren Hotelzimmer durch die schönere Aussicht verbunden wird, täuscht.

Zwar sehen die Berge und das Mittelmeer im Sonnenuntergang friedlich aus, aber die Tragik des einstigen Pressebildes ist verborgen. Tur schnitt die Flüchtlingsboote, die auf dem Original zu sehen waren, aus dem Bild. Mit diesem Wissen wird das Grauen und der Friedhof namens Meer noch präsenter.

Der Titel der Ausstellung rückt beim Betreten der oberen Etage die Frage in den Fokus, wie ein Mensch angesichts der Flut schlimmer Nachrichten noch funktionieren kann. Die aus Selbstschutz aktivierte Verdrängung macht Nachrichten deshalb nicht weniger schlimm. Tur selbst sieht seine intensive Beschäftigung mit dem Thema als eine Art Heilung. Der interessanteste Aspekt der Ausstellung ist sicher, dass Tur mit unterschiedlichen Arten von Offenlegungen arbeitet.

Prozesse abbilden

Er möchte Besucher in die Realität seiner Arbeit und seiner Emotionalität einführen. Die Offenlegung des Arbeitsprozesses an einem Holzschnitt ist per se nicht spektakulär. Jeder von uns kann sich vorstellen, wie eine Druckerwerkstatt aussieht. Trotzdem wird körperliche Arbeit und Mühe an einem Kunstwerk oft unterschätzt. Dass die Verbreitung von Worten einst mit diesem handwerklichen Prozess verbunden war, ist aber auch eine weitere Verbindung zu seinen Werken in der oberen Etage. Für seine Recherche wertete Tur viele Zeitungen und digitale Medien aus. Aber seine Auseinandersetzung greift tiefer – Turs Beschäftigung mit Nachrichten ist auch ein Offenlegen seines Inneren. Repetitive Verdeutlichungen und politische Themen sind Turs Spezialität.

In einer vorherigen Ausstellung schrieb er das Wort „Kapital“ in 800 verschiedenen Variationen mit Tusche und hing die Bilder an die Wände der Galerie. Was damals eine gesellschaftliche und ökonomische Frage war, wird nun mit den drastischen Opferzahlen an den Wänden zur politischen und humanistischen Frage. Tur schafft es damit erneut, eine Gegenüberstellung vom öffentlichen Handeln und privater Tatenlosigkeit zu kreieren, die hier auch eine persönliche Hilflosigkeit beinhaltet.

Bis 28. Januar 2017, Blain Southern, Potsdamer Straße 77–87, Di.–Sa. 11–18 Uhr. Die Galerie ist vom 24. Dezember bis zum 2. Januar geschlossen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen