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Archiv-Artikel

Die Verunsicherung am Hofe Putins wächst

RUSSLAND Gerüchte über gesundheitliche Probleme des Präsidenten machen einmal mehr deutlich, dass das System erschüttert ist. Ein früherer PR-Berater des Kremls spricht von Chaos in der Führungsetage

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Ausgerechnet Japans Ministerpräsident Yoshihiko Noda brachte das delikate Thema wieder aufs Tapet. Noda sagte am Freitag eine Russlandvisite mit Rücksicht auf Wladimir Putins Gesundheitszustand ab. Der Kreml schäumte vor Wut. Wieder war Putins Pressemann genötigt, Gerüchte über eine ernsthafte Erkrankung seines Chefs zu zerstreuen. Putin hinkt seit September. Offiziell heißt es, der sportbegeisterte Präsident habe sich beim Training verletzt. Doch selbst Kameraleute des byzantinischen Kreml-TV beklagen sich hinter vorgehaltener Hand, dass sie den Herrscher in kaum einer Position filmen dürfen, während Physiotherapeuten im Netz Zweifel anmelden: Maximal einen Monat würden sie brauchen, um den Präsidenten wieder zum Laufen zu bringen, sollte es ein Sportunfall gewesen sein.

Schon wieder ist Putin in Bedrängnis. Erst mischten die Proteste gegen Wahlfälschungen im vorigen Dezember unerwartet die politische Landschaft auf: Aus dem vormaligen Garanten für Stabilität wurde ein Symbol für Rückwärtsgewandtheit. Nun nagt auch noch eine körperliche Malaise am Image des unverletzbaren Machos. 2010 entblätterten sich Studentinnen noch als Geburtstagsgeschenk auf einem Pin-up-Kalender. Die diesjährige Vertreterin Russlands beim „Miss Erde“-Wettbewerb beschrieb die Heimat in drastischen Worten: Deren Reichtum werde von wenigen Auserwählten außer Landes geschafft.

Vor Kurzem hätten Patrioten noch aufgeschrien. Doch die Atmosphäre ist freier geworden, auch wenn der Kreml versucht, durch Repression den Protest einzudämmen. Bis jetzt reagiert die erwachende Zivilgesellschaft eher trotzig. Der Kreml versucht auch nicht mehr, dem Machterhalt dienende Gesetze als demokratisch zu kaschieren. Damit verlässt die herrschende Elite den Kurs der Vorjahre, als sie sich zu gemeinsamen europäischen Werten bekannte und Abweichungen als Besonderheit der russischen Tradition darstellte. Stattdessen unterstützt sie den „russischen Weg“, der auf konservative Institutionen wie die orthodoxe Kirche baut.

Damit grenzt sich die politische Klasse gegenüber den 15 bis 20 Prozent der urbanen Mittelschicht ab, die Veränderungen verlangen, und setzt auf Pensionierte, Armeeangehörige und Bürokraten. Der Ex-PR-Berater des Kremls, Gleb Pawlowski, spricht von „chaotischen Zuständen“ in der Führungsetage. Die Zweifel nehmen zu, dass der Präsident die Interessen der eigenen Klientel nicht mehr lange schützen kann. Allein in diesem Jahr beträgt die Höhe des Fluchtkapitals 80 Milliarden Dollar.

Auch auf den unteren Ebenen herrscht Ratlosigkeit: Wie lange hält das System noch? Wen wird es im Interesse des Regimeerhalts opfern? Putin lancierte soeben eine Antikorruptionskampagne, die Punkte beim Wahlvolk bringt, aber auch die Loyalität der Bürokratie gefährdet. Untere Chargen werden zur Verantwortung gezogen, leitende Kader geraten zwar ins Zwielicht, müssen aber nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Die Verunsicherung der Machthaber ist gewaltig, obwohl die Opposition den Druck der Straße nicht aufrechterhalten konnte und es ihr auch nicht gelang, Führer zu bestimmen oder ein Programm aufzustellen. Doch klar ist: Die Opposition wird nicht weichen. Ebenso klar ist dem Kreml: Geht er auf die Forderung nach Demokratisierung ein, betreibt er Selbstdemontage. Untergehen wird das archaische System des autoritären Zentralismus ohnehin. Die Frage ist: durch Revolution, inneren Zerfall oder den Umweg einer Diktatur? Qualvoll wird es so oder so.