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Archiv-Artikel

Auch echte Kerle brauchen Ärzte

VON COSIMA SCHMITT

Er ist der Verlierer im Lebenskampf. Sein Herz ruiniert er mit Bürostress. Früherkennung hält er für eine Flause der Frau. Oft wähnt er sich rundum gesund – bis ihn dann, früher als nötig, der Tod ereilt: der Durchschnittsmann. In den letzten Monaten mehren sich die Kongresse, die sich den sozialen Hintergründen des Patienten Mann widmen. Forscher fahnden nach neuen Erklärungen für ein altbekanntes Phänomen: Warum nur stirbt nach deutscher Statistik Er sechs Jahre früher als Sie? Warum ist Er der Hauptanwärter für Herzattacke wie Krebstumor? „Das sind mehr als Tücken der Natur“, sagt Siegfried Meryn, Medizinprofessor in Wien und Präsident der International Society for Men’s Health and Gender. „Es sind auch Rollenmuster und Geschlechterklischees, die das Männerleben verkürzen.“

1. Die Psychofalle

Vor allem die Frau gilt als prädestiniert für psychische Leiden. Weit öfter als ein Mann wird sie auf Geisteskrankheiten hin untersucht – selbst bei identischen Symptomen. Zum Nachteil für den Psychopatienten Mann. Depressionen etwa galten lange als Bürde, die in 9 von 10 Fällen Frauen trifft. „Aus einer Studie im schwedischen Gotland wissen wir: Das war ein riesiger Irrtum“, sagt Meryn. In Wahrheit sei jede vierte depressionsgeplagte Person ein Mann. Die Ärzte hätten allzu oft die Anzeichen übersehen.

Denn bei vielen Männer äußern sich Depressionen nicht als Trübsinn – sondern als Aggression. Unvermittelt übermannt die Kranken die Wut. Sie misshandeln Frau und Kind oder rasen waghalsig über die Autobahn. Die herkömmlichen Fragenbögen aber, mit denen Ärzte Depressionen zu erkennen versuchen, erfassen dieses Verhalten nicht. Sie orientieren sich am Schema „depressive Frau“.

Ein folgenreicher Fehler: Unbehandelte Depressionen sind eine gängige Selbstmordursache. Und tatsächlich starben 2004 in Deutschland fast dreimal so viele Männer wie Frauen durch Suizid. „Manch verfrühter Tod wäre vermeidbar“, sagt Meryn und verweist auf den Musterfall Schweden: Die Forscher hatten kaum begonnen, die Gotländer männergerecht auf Depressionen zu überprüfen – und schon sank die Selbstmordrate. Allein die Nachfrage half. Als das Projekt am Geldmangel einging, stieg die Quote wieder.

Trotz solcher Teilerfolge kämpfen Männer-Mediziner mit dem Exotenimage. „Men’s health“ ist die Nische in der Nische Genderforschung. Zwar gibt es erste Lehrstühle und Regierungsberichte zur Frauengesundheit. Ein spezieller Fokus Mann aber gilt vielen als verzichtbar – ist die Branche doch ohnehin männerdominiert. So beschränkt sich Men’s health oft auf Luxussorgen um die Greisenpotenz. Dabei ist es nicht die Biologie allein, die Männer so viel früher als Frauen dahinrafft, wissen die Experten aus einer Studie in bayerischen Klöstern. Sie verglich die Sterbedaten der Mönche und Nonnen und fand heraus: Leben Mann und Frau unter ähnlichen Bedingungen und essen sie identische Kost, dann nähert sich das Sterbealter an. Nonnen leben nur ein bis zwei Jahre länger als Mönche.

2. Der Ärztemuffel Mann

Eine Ursache für frühes Siechtum ist aus Krankenkassendaten belegt: Der deutsche Mann ist ein Vorsorgezauderer. Auf vier Frauen, die die Krebsfrüherkennung nutzen, kommt nur ein einziger Mann. Männer lassen sich auch seltener impfen. Selbst wenn ihr Körper Alarmsignale sendet, beharren sie auf ihrer „Morgen ist auch noch ein Tag“-Strategie. „Eine Frau, die Blut im Stuhl bemerkt, geht nach drei bis vier Tagen zum Arzt“, sagt Meryn. „Ein Mann braucht im Schnitt acht bis zehn Tage.“ Die Ursachen für so viel Zögern sind vielfältig. Zum einen überdauern tradierte Stereotype wie „Ein echter Kerl trotzt jedem Schmerz“. Ein Klischee, das die Biologie begünstigt: „Männer haben eine höhere Schmerzschwelle“, sagt Meryn. „Sie spüren eine Krankheit später als eine Frau.“ Zudem wird schon das Teenagermädchen in der Gynäkologenpraxis sozialisiert, sich regelmäßig vorsorglich untersuchen zu lassen. Dem jungen Mann hingegen bleibt die Ärztewelt fremd. In den Anfängen verharrt ist der Versuch, einen „Männerarzt“ zu etablieren – also einen Experten, der sich den organischen, psychischen und soziologischen Spezifika des Männerdaseins widmet. Lediglich ein paar hundert solcher Andrologen wirken in deutschen Praxen. Es fehlt an der Nachfrage.

Dabei riskieren Männer ihr Leben mit so viel Medizinerscheu. An Hautkrebs zum Beispiel erkranken Frauen häufiger als Männer. Doch bei Männern endet er öfter tödlich. „Sie gehen einfach zu spät zum Arzt“, sagt Meryn. Laut Petra Kolip, Gesundheitswissenschaftlerin an der Uni Bremen, „überdauert hier der Irrglaube ‚Was von allein kommt, geht auch von allein‘.“

Sind die Männer also selbst schuld an ihrem verfrühten Tod? Jein. Denn auch das Krankenkassenregelwerk benachteiligt den Mann. Einer Frau wird ab dem 30. Geburtstag die Hautkrebsvorsorge erstattet. Ein Mann muss warten, bis er 45 ist. Medizinisch lässt sich das kaum begründen.

3. Die Unisex-Falle

Dass so viele Männer Vorsorgeprogramme ignorieren, liegt auch an einem verbreiteten Irrtum: dass sich mit derselben Aufmachung männliche wie weibliche Klientel gleichermaßen ansprechen lasse. Dabei verhallen Unisex-Appelle an eine gesündere Lebensweise oft unerhört. Zum Beispiel beim Thema Diät. Männer sind häufiger als Frauen übergewichtig – zumindest, bis sie 50 Jahre alt sind. Doch die Diätindustrie ist unzureichend gerüstet für den Großangriff aufs Männerfett. „Aus US-Studien wissen wir: Diäten sind traditionell auf Frauen ausgerichtet. Selbst wenn sie bei Frauen gut anschlagen, verpuffen sie bei Männern oft wirkungslos“, sagt Meryn. Sie unterschätzen den Drang des Mannes zum tierischen Protein. Frauen peinigt eher ein Süßwarenentzug; Männer verlangt es stärker nach rotem, angebratenem Fleisch. Eine aktuelle Forsa-Umfrage ergab: Männer lockt seltener gedünstetes Gemüse, sie erwärmen sich aber eher als Frauen für den Fettkiller Sport. „Wir brauchen Diätpläne, die Mann-Frau-Spezifika berücksichtigen“, fordert Meryn.

Ähnliches gilt für die Vermarktung der Vorsorge. Thomas Altgeld von der niedersächsischen Landesvereinigung für Gesundheit hat untersucht, wie Früherkennung beworben werden müsste, damit auch Männer sie schätzen. Sein Rat: Imitiert Stil und Sprache der Männerzeitschriften. Arbeitet mit Anglizismen, preist technische Innovationen, redet vom Männerkörper wie von einer Maschine, die es zu warten gilt. „Es gibt Hinweise, dass diese Strategie tatsächlich funktioniert“, sagt Kolip und verweist auf die Erfolgsaktion einer Pharmafirma: „Sie schickten einen Wagen im Colani-Design durchs Land.“ Mit Hightech-Inventar warb er für Gesundheitschecks. „Und prompt standen die Männer Schlange“, so Kolip.

Der Druck, nach neuen Ideen zu fahnden, wächst – gerade in unserer Zeit der Single-Rentner und Scheidungen nach der Silberhochzeit. Denn noch steht und fällt die Männergesundheit mit der Anwesenheit einer Frau. „Ein verheirateter Mann lebt im Schnitt acht Jahre länger als der Witwer oder Single. Bei Frauen ist der Effekt viel geringer“, sagt Kolip. Verwitwet ein 65-Jähriger, mindert das die Lebenserwartung um sieben Jahre. Warum aber rafft Männer ihr Solodasein dahin? „Die Frau ist die Gesundheitswächterin des Mannes“, sagt Kolip. „Sie vereinbart Arzttermine, schickt ihn zur Früherkennung, kocht ihm ein vitaminreiches Mahl.“ Den Mann gefährdet zudem das Rollenmodell Einzelkämpfer, sagt Meryn. Er ist weniger in ein Freundesnetzwerk eingebunden. Das Alleinsein stresst ihn stärker als die sozial gerüstete Frau.

Eine geschlechtersensible Medizin mindert nicht nur Patientenleid. Sie ist eine Frage der ökonomischen Vernunft, weil unerkannte Depressionen mitverantwortlich sind für Frühverrentung und Berufsunfähigkeit. Und weil es allemal günstiger ist, einen Neutumor statt ein Heer von Metastasen zu kurieren. Zudem ist alle Klinik-Hightech verschwendet, wenn die Patienten gar nicht erst hingehen. Frau und Mann erkranken anders – und sie gesunden anders.

Zum Thema „Frauengesundheit“ erschien am 18. August 2005 ein Report in der taz