NACH SECHS JAHREN KREUZBERG UMZUG NACH NEUKÖLLN
: Eine Nummer zu langsam

VON RENÉ HAMANN

In der letzten Nacht in der alten Wohnung träumte ich von drei bereits bezahlten Prostituierten. Am nächsten Morgen freute ich mich, gut geschlafen zu haben, und erledigte den Rest – Bett auseinander- und Anlage abbauen, Rechner einpacken, warten.

Am zweiten Abend nach dem Umzug spielten Spain im Heimathafen. Ich ging zu Fuß hin, weil das jetzt nicht mehr weit war. Viel Rumstehen war da aber nicht, es war ein Sitzkonzert. Vor uns hatten wir einen kleinen, runden Tisch, wie er mir fürs Wohnzimmer vielleicht auch noch fehlt, und eine Kerze. Die stehen mussten, standen auf der Bühne, mit Instrumenten behängt. Es war nicht nur ein Sitzkonzert, es herrschte dazu noch Redeverbot; es war so ein Conaisseur-Ding irgendwie, im Publikum saßen hauptsächlich alte Männer, nicht immer in weiblicher Begleitung, und nickten zum Takt. Einer links vor uns löste immer wieder wieder die herzige Umarmung seiner Frau, um klatschen zu können, und gelegentlich drehte er sich zu uns um. Um mit seinem Gesicht zu konstatieren: Euer Gerede stört. Ups, ’tschuldigung.

Natürlich spielten Spain perfekt. Jeder Ton saß, das Timing war nahezu atemberaubend. An sich spielten die fünf Männer aus San Francisco, im Schnitt immer noch jünger als der Durchschnitt an den Tischen unten, einen ARD-Nachtprogramm-Sound, wohlfeilen Poprock mit Blues-Einschlag, der nur durch eine Eigenheit etwas Besonderes war und ist: Sie spielten alles eine Nummer zu langsam. „World of Blue“ war End- wie Höhepunkt des Konzerts. Hier, in diesem endlos langsamen Schlussstück, zeigte sich auch, warum Josh Haden – nicht ganz so berühmter Sohn des berühmten Charlie Haden, nebenbei auch Schwager von Jack Black – und seine Band einmal kleine Götter des Sad- bzw. Slowcores waren. Diese Musik war einmal weit vorn und weit entfernt von ergrauten, gut ernährten Männern, die ein Rockkonzert mit einem Kinobesuch verwechseln.

Spain spielten am 2. Dezember, mein Tag zwei in Neukölln nach sechs Jahren Kreuzberg. „Because Your Love“, meinen Song des Jahres 2012, spielten sie nicht. Nicht einmal als Zugabe.

Die letzten Platten, die ich in der alten Wohnung beim alten Mitbewohner gehört habe, waren von The Cure. In der neuen habe ich als Erstes das Radio angestellt, auf Flux FM. Später hörte ich „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“, was unpassend war. Der Umzug verlief normal, war aber anstrengend, auch wenn er in gut zweieinhalb Stunden erledigt war. Ich hatte mehr Helferinnen (darunter drei Dichterinnen) als Helfer und bin schon daher der erste Anwärter auf den Bertolt-Brecht-Preis. Als der Möbelwagen in der neuen Straße und ich im Treppenhaus stand, kam eine gut informierte Person vorbei und sagte: „Ich weiß schon, was hier passiert.“ Woraufhin einer der Helfer lachen musste. Vielleicht hat er auch schon vorher gelacht.

Nach dem Umzug, Samstagabend, ich hatte immerhin schon das Bett wieder aufgebaut, ging es noch auf ein kleines Bier in die Lieblingsbar, die jetzt „in fußläufiger Entfernung“ liegt, um es mal stadtplanerisch auszudrücken. Während gleichmütiger Jazz fast unbemerkt aus den Boxen säuselte und blauer Dunst aufstieg, sobald man ihm das Tor in die Freiheit respektive einfach die Tür öffnete. In der folgenden ersten Nacht habe ich nicht gut geschlafen, und von bereits bezahlten Prostituierten habe ich auch nicht mehr geträumt.