„Schon vor Kriegsbeginn geplant“

Bürgerliche Individuen und ihr Umgang mit extremer Gewalt: Der Hamburger Historiker Felix Römer betreibt Täterforschung. In Dokumenten des Bundesarchivs hat er neue Facetten der Wehrmachtverbrechen aufgespürt

Unter dem Titel „Norddeutsche Wehrmachtsverbände im Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion“ stellte der Hamburger Historiker Felix Römer gestern im Lüneburger Nordost-Institut seine Forschungen zu deutschen Kriegsverbrechen vor. Im Gespräch mit der taz erläutert er die Bedeutung seiner Untersuchungen.

taz: Was reizt Sie an dem Thema?

Felix Römer: Die Aktualität – Zeitgeschichte von Menschen, die noch leben. Es geht um Ereignisse, die die ganze Gesellschaft betreffen, schließlich waren 18 Millionen Männer bei der Wehrmacht. Zentrales Thema meiner Untersuchung ist, wie bürgerliche Individuen in Extremsituationen mit extremer Gewalt reagieren.

Sie behaupten, neue Facetten zu beleuchten.

Ja. Nach dem Studium der Geschichts- und Literaturwissenschaften an der Uni Kiel bin ich zur Promotion nach Freiburg gezogen. Dort befindet sich das Bundesarchiv, wo alle Akten der Wehrmacht zu finden und noch längst nicht vollständig erschlossen sind. Seit anderthalb Jahren lese ich mich von morgens bis abends durch noch nie wissenschaftlich gesichtete Akten, um gesichertes Zahlenmaterial für ein geschlossenes Bild von der Ostfront 1941/42 zu sammeln.

Was war das Besondere?

Ein Spezifikum ist es, dass die Verbrechen der Wehrmacht schon vor Kriegsbeginn geplant wurden. Sie sind kein Einzelfall, aber in ihrer Qualität und Quantität einmalig in der Geschichte.

Beispiel?

Der Kommissarbefehl. Er wurde vor Beginn des Unternehmens Barbarossa am 22. Juni an das Ost-Heer ausgegeben. Danach sollten alle in die Rote Armee eingegliederten politischen Funktionäre umgehend nach ihrer Gefangennahme und ohne Verfahren exekutiert werden. Im Sinne des Völkerrechts waren es Kriegsgefangene, deren Leben es zu schützen gilt. Der Kommissarbefehl wird daher zum Komplex verbrecherischer Befehle gerechnet, mit deren Hilfe die Transformation des europäischen Normalkrieges in den ideologischen Vernichtungskrieg vollzogen wurde.

Welche offenen Fragen gibt es da?

Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess hieß es, der Befehl sei nicht umgesetzt worden. Meine Untersuchung wird zeigen: Das stimmt nicht. Ich betreibe Täterforschung mit dem Ziel eines authentischen Geschichtsbildes.

Wieviele Täter, wieviele Opfer gab es?

Die Opferzahlen liegen im hohen vierstelligen Bereich. Es geht mir darum, zu zeigen, dass es die „saubere Wehrmacht“ nicht gab, – dass nicht nur SA und SS, sondern auch die Fronteinheiten der Kampftruppen systematisch Verbrechen verübt haben.

Gab es Widerständler?

Wir haben nur Akten aus den Führungsstäben, wissen daher wenig vom einfachen Soldaten. Bis auf zwei Ausnahmen haben alle Kommandeure den Kommissarbefehl weitergegeben. Obwohl sie, so weit weg von Berlin, reichlich Verhaltensspielraum hatten. Es gab nur Widerstände im Sinne nonkonformistischen Denkens: Man fürchtete, die Truppe könne verwildern.

Warum gab es keine Widerstände?

Großer Befehlsgehorsam. Andererseits waren antibolschewistische Ressentiments stark verbreitet, so dass aus Überzeugung gehandelt wurde, mit den Kommissaren eine Gefährdung der Wehrmacht auszuschalten. Die Exekutionen hatten allerdings eine Brutalisierung des Krieges zur Folge: Gewalt erzeugt Revanchegelüste, so dass die Verfügung der Wehrmacht mehr schadete als half. Deshalb wurde sie durch Hitler Anfang Mai 1942 wieder außer Kraft gesetzt.

Verstehen Sie die Täter?

Menschlich vielleicht, moralisch nein. Keiner machte sich die Mühe, die angebliche Schuld der Kommissare zu hinterfragen.

INTERVIEW: Jens Fischer