Berliner Szenen: Rundreise
Morgen kommt nicht
Ich sitze in meinem Wintergarten und sehe durch die Schneeblumen auf der vereisten Fensterfront in der Ferne die Sonne zwischen den Bäumen aufgehen. Die Vögel auf den Zweigen des großen Kirschbaums im Garten stimmen zum Morgenkonzert an und auch die Frösche im nahe gelegenen Naturschutzgebiet geben bereits bescheidene erste Quaklaute von sich. Ein Nachbar läuft betont langsam mit Tüten und Kartons an meinem Fenster vorbei zu den Mülltonnen und betrachtet mich dabei eindringlich durch die Scheibe, als sei ich das neueste Ausstellungsstück einer Galerie.
Ich blicke betont auf den kahlen Kirschbaum. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich hier schon gesessen habe: Meine Hände sind vor Kälte blau angelaufen, der Tee in der Tasse vor mir ist längst kalt, die Kerze unter dem Teestövchen erloschen und das Kerzenwachs auf eine alte Krakauer Touristenbroschüre getropft, auf der, nun unter roten Wachstropfen, steht: „Special offer! Special trip! Auschwitz and saltmine in one day for only 150 Zloty!“
Der bunt gescheckte Hund zu meinen Füßen schläft. Sein warmer, weicher Körper zuckt, aus seiner geschlossenen Schnauze kommen fiepende Laute: Vermutlich jagt er im Traum einen Hasen. Vor mir auf dem Schreibtisch liegt inmitten von Notizzetteln, Fotos und Ansichtskarten ein aufgeschlagener, alter Atlas. Als ich nach ihm greife, fällt mir ein längst vergessenes Lieblingsbild in die Hände: Das Foto einer griechischen Grotte, auf der sich ein Graffitisprayer verewigt hat mit den Worten: „Life is today! Tomorrow never come!“
Ich betrachte das Foto eine Weile, lege es dann zur Seite, blättere durch die Seiten des Atlasses, schließe die Augen und fahre mit dem Finger über die Landkarte. Eva-Lena Lörzer
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