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Archiv-Artikel

„Es geht nicht um Schuld, es geht um Wissen“

Warum sind die arabischen Länder so resistent gegen Modernisierungsprozesse? Der Historiker Dan Diner meint: Dies ist kein spätes Erbe des Kolonialismus, sondern ein Ergebnis der Selbstblockade der sakralen arabischen Kultur

taz: Herr Diner, Sie beschäftigen sich in Ihrem neuen Buch mit den Modernisierungshemmnissen in der arabischen Welt. Was wirkt denn als Bremsklotz?

Dan Diner: Es gibt kulturgeografische Ursachen: Es handelt sich um Trockenzonen, die begünstigen einen starken Staat. Das erschwerte etwa die Entwicklung autonomer, freier Städte. Vor allem aber ist es die Allgegenwart des Sakralen und das Fehlen der Trennungen, wie sie der Westen seit der Neuzeit herausgebildet hat: zwischen Innen und Außen, Privat und Öffentlich, Politik und Ökonomie.

Wie schlägt das Sakrale auf das Private durch, so dass kein Raum für Modernisierungsprozesse bleibt?

Der Raum ist zumindest beschränkt. Das islamische Recht reguliert alle Lebensbereiche – das Verhalten in der Öffentlichkeit, im privaten Bereich. Das hat auch mit der Sprache zu tun. Die arabische Sprache ist eine sakrale Sprache, es ist die Sprache des Korans. Hochsprache und Volkssprache sind ganz unterschiedlich, und die Hochsprache passt sich gesellschaftlichen Veränderungen kaum an. Nehmen wir nur den Buchdruck, der sich im Islam erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchsetzen konnte. Die Verzögerung hat eindeutig mit der Dominanz des Sakralen zu tun.

Das klingt fast selbstreferenziell: Das Sakrale dominiert, weil das Sakrale dominiert. Gleichzeitig erinnert das Verhältnis, etwa von Buchdruck und dem Sakralen, entfernt an die alten marxistischen Begriffe von Basis und Überbau. Nur, dass der Überbau die Basis in Gefangenschaft nimmt.

Was es aber vor allem gibt, ist eine gewisse Affinität von materiellen Bedingungen und dem Sakralen – wir reden von nomadischen Gesellschaften, die bestimmte Institutionen und Hierarchien ausbilden. Das Sakrale ist nicht einfach das Religiöse, das Sakrale ist ein bestimmter Habitus, eine materielle Komponente in den Lebenswelten.

Klingt deprimierend: Wenn die Modernitätshemmnisse derart stark sind, wie können sie überwunden werden?

So weit würde ich nicht gehen. Die Menschen streben nach Glück und Freiheit. Die Krise in der arabischen Welt wird zu einem Kulturkampf in der arabischen Welt selbst führen. Ein profanes Weltverständnis wird sich seinen Raum erkämpfen.

Das ist eine überraschende These. War der Eindruck, es gebe in den letzten Jahren eine Reislamisierung, ein Irrtum?

Das ist kein Irrtum, zeigt aber nur, wie oberflächlich die vergangenen Säkularisierungstendenzen waren – etwa in Gestalt des arabischen Nationalismus und Sozialismus. Die Reislamisierung ist nicht zuletzt ein Reflex auf die Enttäuschungen, die da entstanden sind. Man brachte den arabischen Nationalismus, etwa Nasser in Ägypten oder die FLN in Algerien, fälschlicherweise mit dem Westen in Verbindung. Nur sind diese oberflächliche Säkularisierung wie die Reaktion in Form der Islamisierung allesamt Teil der Verwerfungen, die zu Selbstverständigung führen müssen. Das kann lange dauern, aber sie wird kommen.

Ihr Buch richtet sich gegen die These, dass der Westen Schuld an der Malaise sei – und nicht die arabische Kultur …

Das Buch ist gegen den postmodernen Diskurs gerichtet, gegen die Rhetorik des Postkolonialismus, der so tut, als habe der Westen den Orient so zugerichtet. Es hat sich eine unheilige Allianz gebildet, zwischen vormodernen Verhältnissen im arabischen Raum und dem postmodernen Diskurs im Westen, der alles mit Nachsicht behandelt und auf den westlichen Imperialismus zurückführt. Das trägt zur Entmündigung der Menschen bei, die sich fragen müssten: Was hat das mit uns zu tun?

Also sind die orientalischen Gesellschaften selbst schuld?

Ich rede nicht von Schuld. Es geht eher darum, dass der Westen selbst vergisst, was er ist. Es geht um die Frage: Wie konnte eine Gesellschaft, die noch vor wenigen Jahrhunderten dem Westen derart überlegen war wie die islamische, derart zurückfallen?

Nur leben wir heute im 21. Jahrhundert. Die Modernisierungshemmnisse in der arabischen Welt werden doch ergänzt durch die global hegemoniale westliche Kultur. Die Minderwertigkeitsgefühle in der arabischen Welt haben damit doch auch etwas zu tun.

Klar, wenn es keinen Spiegel gäbe, könnte man sich nicht erkennen. Natürlich ist die westliche Kultur heute hegemonial, aber es fragt sich, was denn noch westlich ist. Die fernöstlichen Gesellschaften haben die westlichen Vorzüge ganz selbstbewusst adaptiert …

in Form von Shopping-Malls in Peking, die zeigen, was heute westlich heißt: nämlich Amerikanisierung …

Klar, aber Konsumismus oder gar die Peep-Show sind nicht der Kern des Westens. Der Kern des Westens ist eine spezifische Wissenskultur. Und die lässt sich nicht einfach exportieren wie eine Shopping-Mall. Der Ferne Osten ist längst Teil dieser Wissenskultur, die arabische Welt aber nicht. Es fragt sich, wie sehr die arabische Sprache wissenschaftsfähig ist, oder ob nicht gerade die Präsenz des Sakralen in ihr Grund für eine Blockade ist.

Also müssen sich Schichten in der arabischen Welt entwickeln, die Anschluss an diese Wissenskultur suchen. Die gibt es doch bereits: Junge Männer, die Naturwissenschaften studieren, vielleicht in Hamburg. So wie Mohammad Atta.

Eben nicht. Sie kommen nach Deutschland, studieren. Was studieren sie? Sie studieren die praktischen Fächer, lernen die Anwendungen. Wissenskultur heißt Grundlagenforschung, wo Einsicht ohne Verständnis säkularer Lebenskultur nicht möglich ist. Und die gibt es in der arabischen Welt kaum – sondern nur die Übernahme praktischer Anwendungen. Und das macht die Diskrepanz zwischen Orient und den westlichen Wissenskulturen noch größer. Der UN-Entwicklungsreport hat das zugespitzt so formuliert: Dass ein arabischer Literat den Nobelpreis erhält, ist möglich; dass ein arabischer Naturwissenschaftler den Nobelpreis erhält, ausgeschlossen. Denn die naturwissenschaftliche Höchstleistung braucht kollektive Anstrengungen, die Durchdringung der Gesellschaft mit Wissen. Das ist westliche Kultur, nicht Konsumismus und Peep- Shows.

Wissenschaftliche Höchstleistungen sind in armen Ländern selten. Das ist kein Spezifikum der arabischen Welt.

Nur ist die gar nicht arm. Der UN-Entwicklungsreport weist auch darauf hin, dass das Öl auch ein Fluch ist, weil es den Reichtum aus der Erde befördert und die Produktivität der Menschen erstickt. Diese Länder brauchen keinen Marschall-Plan oder mehr Geld. Geld gibt es genug. Aber es gibt kein Kapital im eigentlichen Sinn, also produktiv investiertes Anlagevermögen.

Kann der Westen – Stichwort Demokratieexport – gar nichts beitragen?

Er kann helfen. Durch Kulturpolitik, durch Dialogbereitschaft. Aber letztendlich können nur die Menschen in diesen Ländern selbst eine Kultur der Freiheit schaffen. Heute ist die Freiheit eine Produktivkraft. Ohne Freiheit werden die Antriebskräfte für Entwicklung erstickt. Das ist eine Folge der neuen Technologien und der wissenschaftlichen Revolution und der Unterschied zum 19. Jahrhundert. Das stellt nicht nur die arabischen Länder vor Probleme. Aber dort äußert es sich besonders dramatisch.

INTERVIEW: ROBERT MISIK