„Die Drogenkartelle brauchen Territorium“

MEXIKO Der Journalist Luis Hernández Navarro im Gespräch über die Umweltzerstörung in seinem Land, Verbrechen gegen Aktivisten und die „ökologische Bewegung von unten“

■ Der Autor: geboren 1955, ist als Redakteur der linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada für die Meinungsredaktion verantwortlich. In den 1970er Jahren war er Mitbegründer unabhängiger Gewerkschaften und Berater von Bauernorganisationen. Später beriet er die indigene zapatistische Guerilla EZLN in Verhandlungen mit der Regierung.

■ Das Buch: Er veröffentlichte mehrere Bücher über die Zapatisten, indigene Autonomie und Gewerkschaftskämpfe. Jüngst ist sein Buch „Wer Beton sät, wird Zorn ernten“ in Deutschland erschienen.

INTERVIEW WOLF-DIETER VOGEL

sonntaz: Herr Navarro, man kennt Sie als großen Kenner des Zapatismus und als Gewerkschaftsexperten. Wie kommt es dazu, dass Sie sich jetzt mit Umweltfragen beschäftigen?

Luis Hernández Navarro: In Mexiko wird derzeit in geradezu wilder Form die Umwelt zerstört. Der offene Tagebau spielt dabei eine große Rolle, aber auch immer mehr Wasser wird vergiftet, ganze Wälder werden abgeholzt. Zudem soll der Anbau von gentechnologisch verändertem Mais bald legalisiert werden. Schon jetzt ist Mexiko eine große Müllhalde. Das hat zu einem guten Teil mit dem Entwicklungskonzept zu tun, das hinter der Freihandelspolitik steckt.

Wieso?

Die mexikanische Industrie war ab Ende der 1970er Jahre stark von den Maquiladoras, den Weltmarktfabriken im Norden, geprägt. Mexiko bot billige Arbeitskräfte. Mit dem Freihandelsvertrag zwischen den USA, Kanada und Mexiko, der 1994 in Kraft trat, boomte die Region regelrecht. Schon das führte dazu, dass die Umwelt kollabierte: Abwässer wurden hemmungslos in den Rio Bravo geleitet, giftige Gase aus Gießereien verschmutzten die Luft. Doch als dann 2001 China der WTO beitrat und wesentlich günstigere Arbeitskräfte anbot, migrierten viele der internationalen Unternehmen in den Osten. Innerhalb von vier Jahren ging die Zahl der Maquiladoras auf die Hälfte zurück. Das veranlasste die Regierung de facto zu einem Moratorium der Umweltauflagen. Sie schloss die Augen, wenn diese Gesetze verletzt wurden, damit die Industrie nicht in den Schutz der Umwelt investieren muss. Das hat schwere Zerstörungen der Natur sowie große gesundheitliche Schäden hervorgerufen. In einigen Regionen sind die Krebserkrankungen zehnmal höher als im bundesweiten Durchschnitt, Kinder werden ohne Gehirn geboren. Auch schwerwiegende Hautprobleme stehen häufig im Zusammenhang mit dem Ausstoß giftiger Abfälle der Industrien, offener Müllhalden oder der Wasserverschmutzung.

Trotzdem ist die Regierung immer noch nicht bereit, die Umweltauflagen konsequenter anzuwenden?

Nein. Sie rechtfertigt ihre Politik mit der Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Regierung bietet den Unternehmen weiterhin an, die Augen zu schließen, damit diese investieren. Aber es gibt noch einen anderen Grund: Viele Politiker arbeiten mit den Firmen zusammen und bekommen von ihnen zum Beispiel Geld für ihre Wahlkampagnen.

Aber offensichtlich regt sich Widerstand.

Die zerstörerische Entwicklung führt zu zahlreichen Protesten. Vor allem arme ländliche und städtische Bevölkerungsschichten wehren sich. Am stärksten leiden indigene Gemeinden, denn sie verfügen ja über den größten natürlichen Reichtum. Da geht es um einen Kampf um die Ressourcen, die die Menschen zum Überleben brauchen. Sie sind Umweltschützer geworden, weil sie existenziell bedroht sind. Wahrscheinlich würden sie sich selbst gar nicht so nennen. Ich spreche von einer ökologischen Bewegung der Armen.

In Deutschland verbindet man diese Bewegung eher mit der Mittelschicht, die Grünen stehen zum Beispiel dafür.

In Mexiko galt die Umweltproblematik lange Zeit als Luxusproblem der Gesellschaften der Ersten Welt, also gewissermaßen auch als ein Problem der Mittelschicht. Doch nun ist diese ökologische Bewegung von unten entstanden. Die Menschen wehren sich dagegen, dass die Bäume ihrer Wälder gefällt werden, Staudämme die Erde austrocknen oder der offene Tagebau Boden und Wasser vergiftet. Zugleich leiden diese Umweltaktivisten unter denselben Problemen wie die große Mehrheit der sozialen Bewegungen: Sie werden kriminalisiert und sind schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Viele wurden ermordet, gewaltsame Repression ist alltäglich. Sie sind also Opfer der Umweltverschmutzung und zugleich werden ihre Menschenrechte verletzt.

Wer steckt hinter den Aggressionen?

Für die Angriffe gegen Bergbaugegner sind meist die Minenunternehmen verantwortlich. Zum Beispiel die kanadische Firma Blackfire, die in Chiapas agiert. Dort wurde Mariano Barca ermordet, der sich gegen den giftigen Abbau von Mineralien wehrte. Eines Tages erschienen vor seinem Haus drei Killer und erschossen ihn. Die Ermittlungen ergaben, dass die Attentäter Verbindungen zu Blackfire hatten. Später wurden sie aber einfach eingestellt. Ähnlich sieht es in San José de Progreso in Oaxaca aus. Auch dort wehren sich die Einwohner gegen den Bergbau. Vor vier Monaten wurde ein Wortführer der Bewegung ermordet. In diesem Fall stecken die Pistoleros mit dem örtlichen Bürgermeister, dessen Umfeld von der Mine profitiert, und dem Unternehmen unter einer Decke. Andernorts sind illegale Holzfäller für die Angriffe verantwortlich. Überall, wo Konflikte existieren, gibt es eine spezifische Formen der Repression. Häufig sind Polizisten und Behörden beteiligt.

Welche Rolle spielt die Mafia?

Die Drogenkartelle brauchen Territorium, um Marihuana und Mohn zu pflanzen. Zudem müssen sie Kokain transportieren, das aus Kolumbien kommt. Und sie brauchen menschliche Ressourcen, Killer zum Beispiel. In ihrer Strategie der territorialen Kontrolle zählt der Schutz der Umwelt nicht zu ihren größten Sorgen. Häufig sind sie mehrfach in gesetzeswidrige Geschäfte involviert: Im Bundesstaat Michoacán fällen sie illegal Holz und transportieren Drogen. Entsprechend terrorisieren sie die Bevölkerung. Zudem müssen sie ihr Geld waschen, mindestens 30 Milliarden Dollar müssen jährlich in die legale Geldzirkulation eingehen. Ein gut Teil dieses Vermögens fließt in touristische Projekte, durch die viele Mangroven zerstört werden.

Zurück zur legalen Wirtschaft: Bergbau wird vor allem von kanadischen Unternehmen betrieben. Welche Rolle spielen europäische Firmen?

Die Spanier verhalten sich wie die neuen Kolonisatoren. Sie besetzen viele Räume, die vorher US-Territorium waren. So etwa das Energieunternehmen Endesa und der Erdölkonzern Repsol, aber auch Baufirmen und Betriebe, die giftige Müllhalden hervorbringen. Andere sind wie Aguas de Barcelona in die Privatisierung von Wasser in urbanen Zonen involviert. Die Unternehmen verhalten sich wie eine koloniale Macht. Die Menschenrechtsklausel, die im Kooperationsvertrag zwischen der EU und Mexiko festgeschrieben ist, interessiert da niemand. Was zählt, sind ökonomische Interessen.

In Bolivien und Ecuador, wo das Verhältnis zur Natur durch indigene Organisationen eine besondere Rolle spielt, hat sich eine Debatte um das Konzept des „Buen Vivir“ entwickelt. Diese Idee eines „erfüllten Lebens“ setzt auf ein Leben im Einklang mit der Natur. Gibt es in Mexiko ähnliche Diskussionen?

Man verwendet zwar nicht diesen Begriff, aber diskutiert über das, was sich dahinter verbirgt: die Harmonie mit der Natur. Damit beschäftigen sich auch bei uns vor allem Indigene. Sie klagen Autonomie und das Recht auf Selbstbestimmung ein, haben eigene Behörden sowie Regierungen und kümmern sich um die Wiederbelebung ihrer Traditionen. In der Gemeinde Cherán kämpfen sie zum Beispiel gegen die Abholzung ihrer Bäume. Der Waldschützer ist in indigenen Gemeinden eine wichtige Person.

Luis Hernández Navarro: „Wer Beton sät, wird Zorn ernten. Mexikos Umweltbewegung von unten“. Unrast-Verlag, Münster 2012, 200 Seiten, 14 Euro