Ein bisschen wie Tirol

Viktor Szilagyi spielt als erster Österreicher Handball beim THW Kiel. Der Stellvertreter des schwedischen Spielmachers Stefan Lövgren genießt die Verschlossenheit der Menschen in seiner neuen Umgebung, weil sie ihn an seine österreichische Heimat erinnert

aus Kiel von Christian Görtzen

Das chinesische Sprichwort, dass in jeder Krise auch eine neue Chance liegt, trifft auf Viktor Szilagyi nur unzureichend zu. Als beim deutschen Traditionsverein TuSEM Essen nach dem Lizenzentzug durch die Handball- Bundesliga (HBL) Entsetzen und Verzweiflung die Agenda bestimmten, musste es einem so erscheinen, als hätte sich der österreichische Nationalspieler nur kurz nach unten gebeugt und aus dem Chaos um ihn herum das große Los herausgezogen. Darauf geschrieben stand der Name THW Kiel, Deutschlands beste Adresse im Handball.

Während sich so mancher Essener Spieler im besagten Frühsommer in einer Sackgasse seiner Karriere wähnte, fand der 27 Jahre alte Szilagyi mit Hilfe seines Managers eine Ausfahrt, die Glück, große Siege und glänzende Pokale versprach. Dem ehemaligen Akteur von Union St. Pölten und des ATSV Innsbruck war sogar der Luxus vergönnt, aus zwei Angeboten deutscher Bundesligavereine wählen zu dürfen. Neben Kiel zeigte auch die HSG Nordhorn Interesse an dem 1,96 m großen Rückraumspieler, der vier Jahre lang im Trikot des TuSEM Essen seine Tore geworfen hatte.

Eine Ironie des Schicksals wollte es, dass der harte Absturz des westdeutschen Vereins auf dem höchsten Punkt seiner jüngeren Klubgeschichte eingeleitet wurde, dem diesjährigen Gewinn des EHF-Cups. „Wir hatten in dieser ungewissen Zeit irgendwann nur noch den Europapokal vor Augen, wollten diesen Titel unbedingt holen. Und es war eine Riesenfreude, als wir ihn gewonnen hatten. Einige Spieler dachten wohl, das sei die Rettung für den Verein“, erinnert Szilagyi. Er und seine Mannschaftskollegen täuschten sich.

Szilagyi entschied sich einige Wochen später für den THW Kiel und damit gegen die HSG Nordhorn und einen Weg des geringeren Widerstandes. Es sei eine bewusste Wahl gewesen, sagt der gebürtige Ungar, der mit fünf Jahren nach Österreich gekommen war. Für Nordhorn sprach die bessere Aussicht auf Einsatzzeiten auf dem Spielfeld, für Kiel die Ambitionen des Vereins und die glänzende Perspektive, sowohl in der Meisterschaft als auch im DHB-Pokal und der Champions League eine sehr gute Chance auf den Gewinn des Titels zu haben.

„Ich habe erlebt, wie es ist, einen Cup zu gewinnen. Man wird süchtig danach“, sagt Szilagyi, der erst kurz vor Beginn der neuen Saison mit seiner Freundin Nora (25) von Essen in den Kieler Vorort Altenholz umgezogen ist. Vorankommen wolle er beim THW, so viel wie möglich erreichen und erleben. Mit dem Gewinn des Supercups vor Beginn der Saison ist der Anfang gemacht.

Dass er durch seinen Wechsel in die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt der erste österreichische Spieler in der ruhmreichen Historie des THW Kiel ist, sei eine schöne Nebenerscheinung. Sie mache ihn ein wenig stolz, aber auch nicht zu sehr. Auf Personenkult ist Szilagyi nicht aus, er begreift sich als Teil der Mannschaft.

Verständlich, schließlich hofft er im Umkehrschluss auch als wichtiger Teil des Ganzen, des Teams, wahrgenommen zu werden. Dass die Ansprüche und der Konkurrenzkampf in Kiel eine andere Qualität besitzen, bekam er bereits in den ersten Partien der noch jungen Saison zu spüren. Jeweils eine knappe Viertelstunde durfte Szilagyi bei den Siegen in Hamburg und Wetzlar mitwirken. Die überschaubare Einsatzzeit sowie seine neue Position beim THW Kiel als Stellvertreter für den schwedischen Weltklassespielmacher Stefan Lövgren seien aber kein Fingerzeig darauf, dass die „große Vorfreude auf den gesamten Verein“ über kurz oder lang in einer herben Enttäuschung münden werde, sagt Szilagyi. Im ersten Heimspiel gegen FA Göppingen ließ er Taten folgen und erzielte zwölf Treffer, was in den folgenden vier Spielen zu drei Einsätzen von Beginn an führte.

„Das Ziel des THW ist es doch, überall ganz oben mitzuspielen. Und dafür braucht man einen großen Kader. Wäre es nicht so, ließe sich der gewünschte Tempohandball doch auch nicht ohne Niveauverlust spielen“, begründet Szilagyi, der vom deutschen Meister einen Ein-Jahres-Vertrag erhalten hat. Im Januar oder Februar wolle er ein ehrliches Zwischenfazit ziehen und schauen, wie es mit ihm und dem Kieler „Zebras“ weitergehen werde. „Wenn man nur ein bisschen mitspielt und ein wenig mitfeiert, ist das nicht befriedigend“, sagt der 27-Jährige, der einen angenehmen Nebeneffekt seines Wechsels nach Norddeutschland genießt. Durch die überschaubare Entfernung von gerade einmal 90 Kilometern bis nach Hamburg finde er beste Voraussetzungen vor, um möglichst viele Spiele des Hamburger SV, seines Lieblingsvereins im Fußball, verfolgen zu können.

Überhaupt fühle er sich in seiner neuen Umgebung an der Ostsee sehr wohl, beteuert Szilagyi, dessen großer Traum es ist, mit der österreichischen Nationalmannschaft mal an einem großen Turnier teilzunehmen. Anpassungsprobleme habe es nicht gegeben. Die etwas zurückhaltende Art der als unterkühlt geltenden Norddeutschen käme seinem Naturell sogar entgegen. „Die norddeutsche Mentalität liegt mir mehr als die weitaus offenere der Rheinländer. Es ist hier ein bisschen wie in meiner ehemaligen Heimat Tirol. Am Anfang sind die Menschen noch verschlossen, aber wenn sie sich erst einmal einem öffnen, dann tun sie es ganz“, sagt Szilagyi und lächelt dabei.