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Fragiler Komfort

Provinzthriller In „Auf einmal“ inszeniert Aslı Özge die Geschichte eines Rufmords

Karsten (Sebastian Hülk) und sein Vater (Hanns Zischler) Foto: MFA

Sicher ist nichts außer dem Absturz, wenn das Vertrauen ins Wanken gerät. Die in Istanbul und Berlin lebende Regisseurin Aslı Özge interessiert sich für den universellen sozialen Mechanismus fataler Ressentiments, seit sie vor Jahren in ihrer ersten Heimat von einem Mordverdächtigen las, der in das Gestrüpp falscher Indizien verstrickt wurde und alles verlor.

Ihr Thriller „Auf einmal“ erzählt keine große politische Geschichte, sondern ein Sittentableau junger Leute in einer gutsituierten Kleinstadt. Aufmerksam und skeptisch recherchierte sie deutsche Milieus und ihre Anfälligkeit für Vorverurteilungen. Mit zugewandtem und doch distanziertem Blick gelingt ihr ein Film noir, der frei vom Formatdenken gängiger Fernsehunterhaltung nicht einfach der Frage nach dem Täter nachjagt.

„Auf einmal“ zeigt, was geschieht, wenn das Image verlorengeht und das Regelsystem gut geölter Familien-, Freundes- und Geschäftsbeziehungen aufgestört wird, Ermittlungen einen Verdächtigen immer mehr zum Außenseiter stempeln. Ihr Protagonist sinnt auf Rache, indem er die Methoden seiner Ausgrenzung bloßstellt.

Karsten Böhm (Sebastian Hülk), ein introvertiert wirkender Typ um 30, gerät nach einer Party in seiner Wohnung in Panik, als sein Gast, eine ihm unbekannte junge Frau, zusammenbricht. Er reagiert so konfus, dass die Polizei den Ablauf des Abends und seine Unschuldsbehauptung in Zweifel zieht. Die junge Frau, eine Russlanddeutsche, war mit Karstens Clique gekommen und als Letzte geblieben. Karstens Erklärung, sie habe wie eine potenzielle Selbstmörderin gewirkt und seine Beteuerung, keinen Sex mit ihr gehabt zu haben, befördern eher das Misstrauen.

Karstens Frau Laura (Julia Jentsch), die von einer Geschäftsreise zurückkehrt und seine Version zunächst glaubt, rückt mehr und mehr von ihm ab. Ihre beste Freundin Judith (Luise Heyer) unterstellt ihm mit moralischem Zeigefinger, aber insgeheim eifersüchtig, einen Seitensprung. Sein Vater (Hanns Zischler), ein Geschäftsmann mit Einfluss in der Kleinstadt, engagiert einen befreundeten Anwalt, um den guten Ruf der Familie mit allen Mitteln zu wahren.

Aber Karsten wird weiter isoliert, als der Witwer der verstorbenen jungen Frau die Anklage erwirkt. Karstens Chef in der größten örtlichen Bankfiliale versetzt ihn während der laufenden Ermittlungen in ein Büro ohne Kundenkontakte.

Die Stadt Altena im Sauerland, ein Ort in Hanglage, der in den letzten Jahren in einen „Erlebnisaufzug“ zur mittelalterlichen Burg hinauf investierte und so der Stagnation mit trendigen Geschäftsideen trotzt, gibt den stimmigen Schauplatz für das Desaster inmitten solider Idylle. In entsättigten Farbtönen, aus denen das romantische Blau vollkommen getilgt ist, bewegt sich der verschlossene, wütend wirkende Protagonist durch die Stadt.

Aslı Özge zeigt in vielen Details beiläufig anschaulich, wie sehr Karstens Generation noch oder wieder vom Wohlstandsdesign der Eltern geprägt ist. Ohne eigene Perspektive bleibt sie im Normsystem der Alten gefangen.

Aslı Özge zeigt, wie Karsten vom Wohlstandsdesign der Eltern geprägt ist

Die Regisseurin macht es sich nicht einfach, die verwöhnten Mittelstandskinder ihres Films zu kritisieren. Sie zeigt einen Protagonisten, der nie zuvor kämpfen musste und alle Vorteile seiner Herkunft konformistisch annahm. „Auf einmal“, erklärte sie in einem Interview, sei die Geschichte einer Krise, in der Karsten die Fragilität seines Komforts bewusst wird. Je deutlicher die Widersprüche der Anschuldigungen zutage treten, desto erbarmungsloser zahlt Karsten zurück – ohne Waffengewalt, aber mit kaltem Gespür für das, was in der Kleinstadtgesellschaft zählt.

Claudia Lenssen

„Auf einmal“. Regie: Aslı Özge. Mit Sebastian Hülk, Julia Jentsch u. a. Deutschland/Frankreich/Niederlande 2016, 113 Min.

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