: Die Arbeit einer Löwenbändigerin
WARMSPIELENDie Organistin Iveta Apkalna zeigt, dass die Elbphilharmonie-Orgel perfekt zur pragmatisch-säkularen Mentalität der Hamburger passt
So lange braucht der doch nicht für sein Butterbrot! Oder doch? Vier Minuten, das ist nicht viel für die Frühstückspause eines Bauarbeiters in der Elbphilharmonie. Warum geht er da nicht an die frische Luft? Weil er nicht kann, weil er nicht will, wenn die große Elbphilharmonie-Orgel vorgeführt wird. Da kommt er immer wieder wie zufällig in die Arena, in der Iveta Apkalna am Spieltisch sitzt und in die Tasten greift.
Das ist körperlich anstrengend, sie packt und bändigt das Instrument. Arbeitet wie eine Löwenbändigerin und erinnert so en passant an die brutalen Anfänge der Orgel. Das war um 246 vor unserer Zeitrechnung. Die alten Römer hatten das Hydraulis genannte Instrument von den Griechen übernommen und nutzten es zur Hintergrundbeschallung ihrer blutigen Kämpfe zwischen Löwen und Menschen. Damals starben auch viele Christen, weshalb die frühen Gemeinden keine Orgel in ihren Räumen haben wollten.
Inzwischen ist das anders: Nachdem die Orgel fast 1.000 Jahre lang ausschließlich in Kirchen stand, kehrte sie Ende des 19. Jahrhunderts ins profane Konzert zurück. In jedem renommierten Konzertsaal steht heute eine. Aber die Hamburger wollten keine für ihre Elbphilharmonie. Warum, bekommt man nicht recht heraus. Vielleicht fanden die hanseatischen Kaufleute das Instrument zu sakral. Fürchteten gar, der alte Kakaospeicher, auf dem die Elbphilharmonie sitzt, könne unter den zusätzlichen 25 Tonnen der Orgel endgültig zusammenbrechen.
Wie auch immer: Die Frage an den 2007 vom Wiener Konzerthaus geholten Intendanten Christoph Lieben-Seutter, was er von einer orgellosen Elbphilharmonie halte, galt als Formalie. Doch der rebellierte, und da die Orgel nicht in das letztlich 789 Millionen Euro teure Haus eingepreist war, suchte die damalige Kultursenatorin Karin von Welck (parteilos) Sponsoren. Und fand: Peter Möhrle, Ex-Chef der Ex-Baumarktkette Max Bahr, der für das Instrument zwei Millionen Euro gab.
Doch es war spät, die Pläne standen; quasi in letzter Minute bezogen die Architekten Herzog & de Meuron die Orgel in die Saalplanung mit ein. Aufwendig musste das Instrument in die gebogenen Wände eingebaut und hinter der „weißen Haut“ versteckt werden.
4.765 Pfeifen, deren Tonlage vom tiefen, dumpfen Kribbeln bis zum kaum mehr hörbaren Piepen reicht, schliff und stimmte die renommierte Bonner Orgelbaufirma Klais in den vergangenen Jahren, jedes Detail abgestimmt auf die Raumsituation der Elbphilharmonie.
Und Klais gelang noch mehr. Er baute einige Orgelpfeifen als sogenanntes Fernwerk in den riesigen Deckenreflektor über der Bühne ein. Diese technische Finesse ist bei Europas Orgeln selten und bewirkt, dass sich der Klang gleichmäßig auf den Raum verteilt – gelebte akustische Basisdemokratie.
Diese politisch-akustische Correctness entfaltet sich tatsächlich, als Apkalna an jenem Morgen die Toccata aus dem Choral „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ des Letten Aivars Kalejs spielt. Der Klang füllt den Raum, aber man kann ihn nicht orten. Fühlt sich wie in einer gotischen Kathedrale, dem Kölner oder Rigaer Dom vielleicht.
Allerdings – der oft störende Nachhall in solchen Kathedralen fehlt in Elbphilharmonie: Jede Klangfarbe tritt klar hervor, nichts verschwimmt oder wabert sentimental ineinander. Und nach den vier Minuten stoppt die Musik so plötzlich, wie sie begann. Vom Pomp geht es direkt ins Nichts, auf den den Klangteppich folgt sofort die Stille – fürs Aufwachen bleibt keine Zeit. Es ist eine fast Brechtsche Verfremdung. So etwas gefällt dem Hanseaten, da muss er keine Angst vor post-konzertanter Sentimentalität haben. Er kann einfach aufstehen und gehen, die Orgel als ein Instrument unter vielen einsortieren, braucht sie nicht als Königin der Instrumente anzubeten.
Orgelbauer Klais hat gesagt, er baue jede Orgel auf die Mentalität und Hörgewohnheiten des jeweiligen Standorts hin. Die hanseatische Mentalität hat er getroffen. Petra Schellen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen