: Heillose Pilgerfahrten
Arbeiten gegen den Augenzumachimpuls: Das Leipziger Dokumentarfilmfestival präsentierte sich dieses Jahr mit neuem Leiter, neuem Logo und mit einem heimlichen Leitthema – der Religion
VON DETLEF KUHLBRODT
Als am Wochenende die vielen Preise des 48. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig verliehen wurden, war einem ganz wehmütig. Denn die Filme, die ich sah, waren so gut gewesen, die Menschen so prima, und mit einer Träne im Knopfloch hatte sich Otto Alder verabschiedet, nachdem er zum 13. Mal das Animationsprogramm des Festivals kuratiert hatte. Außerdem weinte man Picassos Taube hinterher, die 40 Jahre lang das Festivallogo gewesen war und nun ohne guten Grund „geschlachtet“ (Leipziger Volkszeitung) und durch eine „frechere“ Vogelschwester ersetzt wurde.
So überaus angenehm war Leipzig während der sechs Festivaltage in der Sonne zwischen den 190 Dokumentar- und 190 Animationsfilmen, die aneinander gereiht 16.568 Minuten lang und damit 3.444 Minuten länger waren als im vergangenen Jahr. Dank des Geschicks des Festivalleiters Claas Danielsen gab es viel mehr Fachbesucher als früher; jedoch ging die Zuschauerzahl etwas zurück, wohl weil Semesterferien waren. Auch wurde der 25. Geburtstag der Fachorganisation AG-DOK begangen, deren Streifen – beispielsweise über den heldenhaften Kampf gegen die WAA Wackersdorf – inzwischen zuweilen so seltsam ausschauten wie manche Propagandastreifen aus der Ehemaligen.
Abschied nehmend nannte Otto Alder, der Schweizer Zeichentrickknetfigurentoptrick3dundcomputeranimationsbesessene, das Festival eine „Schule des Sehens“. Man lernt, mit und durch die unterschiedlichsten Augen zu gucken, und gibt dem Augenzumachimpuls nicht nach, wenn etwas kommt, das irgendwie gruselig ausschaut wie etwa diese halbe Stunde in dem wunderbaren Film „Workingmans Death“ von Michael Glawogger, in dem Männer in einem nigerianischen Open-Air-Schlachthaus ihrer superharten Arbeit nachgehen. Manchmal bemüht man sich auch, sie offen zu halten, bis man reinkommt, wie in der ersten Stunde der 164 Minuten langen Studie „Die große Stille“ von Philip Gröning, und wird danach belohnt mit einer schönen Ruhe, die in einem irgendwie gewachsen ist und körperlich eine Weile nachwirkt. Wunderschöne, stille Bilder zeigen Schweigemönche in einem Karthäuserkloster bei Grenoble.
Religion war eines der Leitthemen auf dem traditionsreichsten Dokumentarfilmfestival Deutschlands: In „Kommune der Seligen“ porträtierte Klaus Stanjek etwa die deutschstämmige Religionsgemeinschaft der Hutterer, die zurückgezogen im Hinterland der nordamerikanischen Prärie am Urchristentum orientiert zusammenleben, moderne Medien als eitle „Augenlust“ ablehnen und einen seltsamen alpenländischen Dialekt sprechen.
Der junge polnische Regisseur Jarek Sztandera dokumentiert in „For a Miracle“ ohne Kommentar, wie die meisten Filme mittlerweile, eine Pilgerfahrt, die 500 polnische geistig und körperlich Behinderte mit der Eisenbahn nach Lourdes unternehmen. Wenn die mitfahrenden Priester im Zug über Mikrofon die Messe lesen, Oblaten im Speisewagen verteilen, wirkt es manchmal lustig. In Lourdes blitzt und donnert es ganz gewaltig wie bestellt hinter der Heiligen Jungfrau Maria. Geheilt wird niemand. Dennoch erhielt dieser ironische Film eine Goldene Taube für den besten kurzen Dokumentarfilm.
Der edle Eröffnungsfilm des Schweizers Christian Frei „The Giant Buddha“ (Silberne Taube für den zweitbesten langen Dokumentarfilm) erzählt von der Kraft des leeren Zentrums, dem leeren Raum im Felsmassiv im Bamiyan-Tal in Afghanistan, in dem 1.500 Jahre lang diese riesigen, berühmten Buddhastatuen standen, bevor die Taliban sie sprengten. Die Wirkmächtigkeit dieser Leere ist groß. Sie wurde zum Weltkulturerbe erklärt. In China wurde kurz nach der Sprengung eine verkitschte Kopie erstellt und hernach wieder wegen schlechter Presse mit riesigen Tarntüchern verhängt. Wissenschaftler erwägen, die Gesprengten wieder hinzustellen oder durch ein Hologramm zu ersetzen. Man ärgerte sich ein bisschen, weil dieser Film eigentlich toll ist, jedoch dramaturgisch schwächelt.
China in einer Sonderreihe, Liebe, Arbeit, Krankheit und Minen – die, in denen gearbeitet wird; die, die Menschen zerfetzen – waren weitere Leitthemen der DOK-Filmwoche. Der australische Film „Land-Mines – A Love Story“ von Dennis O’Rourke erzählt die Liebesgeschichte zwischen Habiba und Shah, die beide durch Landminen versehrt wurden und wurde dafür mit dem Preis von Ver.di geehrt. Der auch formal herausragende, ruhige Film „Before Flying Back to the Earth“ des litauischen Regisseurs Arunas Matelis spielt in einer Kinderkrebsstation in Vilnius und begleitet einen zwölfjährigen Patienten, der sich zuweilen auch selber filmt. Sein Stoizismus ist großartig. Der Film gewann den Hauptpreis des Festivals.
Wunderbar war auch – ach was … Die Jugendjury, die den deutschen Beitrag „Dancing with myself“ von Judith Keil auszeichnete, der drei labile Menschen dreier Generationen beobachtet, die nur im Tanzen ganz bei sich sein können, erwähnte zu Recht in ihrer Preisbegründung acht weitere Dokumentationen, die, auch wenn sie oder gerade weil sie nicht dezidiert politisch schienen, den drängenden Wunsch in ihnen entstehen ließen: „So, jetzt geh ich raus und verändere die Welt.“
Einer der Hauptunterschiede zwischen Dokumentar- und Spielfilmen ist übrigens, dass in Dokumentarfilmen viel und gern geraucht wird.