Berliner Szenen: Am Tresen
Fragt man nicht
„Ich bin 48“, sagt der Mann am Tresen, „aber finanziell wirke ich jünger.“ Dann hat er genug gesagt, vorerst, und winkt der Tresenfrau. Die Tresenfrau hat das breite Lächeln einer schönen Seele, den gewundenen Blick einer nicht ganz leichten Kindheit und weiß Bescheid: Das heißt Schnaps.
Sie fährt demnächst zurück nach Hause für drei Tage, der Vater hat Geburtstag, 70. oder so. „Wir wissen nicht besonders viel übereinander“, sagt die Tresenfrau. Vor einigen Jahren erzählte sie ihren Eltern, sie arbeite nebenher in einer St.-Pauli-Kneipe. In Berlin?, habe der Vater überrascht gefragt, da habe sie gesagt, die gibt’s überall. Vor Kurzem habe der Vater sie beim halbjährlichen Telefonat gefragt, ob sie immer noch in dieser Oben-ohne-Bar jobbe. Wie, habe sie gesagt, was, habe sie gesagt, warum denn oben ohne? Dann sei ihr klar geworden: St. Pauli. Rotlicht. Halbwelt. Hat der alte Herr ja schon im Fernsehen gesehen. Sie lacht. „Hätt’ ich ihm gar nicht zugetraut, dass er mir so was zutraut.“
Die Tür geht auf, ein Motz-Verkäufer kommt herein, man nickt sich zu. Ich kenne ihn von früher, da war er einmal, wie ich, Stammgast in einer anderen Kneipe, jenseits des Kanals. Jetzt sind seine Arme überzogen von Ekzemen, er fragt nach Zigaretten. Die Tresenfrau stellt ihm ein Wasser hin. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll, man sieht ihm ja an, wie’s ihm geht. Er ist trockener Alkoholiker, aber heroinabhängig; das würde mich interessieren, wie das geht. Aber so was fragt man natürlich nicht, so was kriegt man einfach so erzählt. Also schweigen wir.
Als er geht, hebt der Mann am Tresen wieder die Hand. Und du? Danke, gerade nicht.
Frederic Valin
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