: Eine Ära geht zu Ende? Aber ja
VON BETTINA GAUS
Woran in den letzten Tagen kaum noch zu zweifeln war, das ist seit gestern offiziell: Die Amtszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder geht zu Ende. Er nimmt Abschied vom Kanzleramt. Und dieser Abschied ist vermutlich endgültig – vieles spricht dafür, dass der Altmeister des Zockens sein Blatt für endgültig ausgereizt hält.
Der letzte kühne Coup, der einen Pokerspieler gegen jede Wahrscheinlichkeit ans Ziel seiner Träume bringt, eignet sich eben doch eher für Hollywood als für Berlin. Deshalb hat Schröder offenbar allem Drängen widerstanden, seinen Schreibtisch einfach nur ein paar Straßenzüge weiter aufzustellen, nämlich im Auswärtigen Amt. Hätte er das getan: Die Arbeit der großen Koalition hätte großes Kino werden können.
Ein Außenminister steht vor den Kameras stets kleidsam da. Für die Verkündung schlechter Nachrichten sind andere zuständig. Der Vorgänger hätte seine Nachfolgerin im Kanzleramt somit kontinuierlich unter Druck setzen können. Die SPD müsste sich um die Person ihres Spitzenkandidaten zunächst keine Gedanken mehr machen. Vielleicht wäre Schröder ja auch beim nächsten Mal gelungen, woran er dieses Mal noch gescheitert ist: nicht nur ein achtbares Ergebnis zu erzielen, sondern einen echten Wahlsieg zu erringen.
Er wird es – nach Stand der Dinge – nicht einmal mehr versuchen. Der Konjunktiv bleibt Konjunktiv. Gerhard Schröder wirft sein Blatt hin und zieht sich zurück. Sein „Lebensweg“ sehe anders aus, soll er dem Vernehmen nach gesagt haben. Sollte das stimmen, dann wäre das ein Hinweis darauf, wie stark er tatsächlich von den 68ern geprägt worden ist, zu denen er selbst niemals ganz gehörte: Führende Repräsentanten dieser Bewegung kümmerte bekanntlich selbst der Krieg in Vietnam gelegentlich weniger als bestimmte Aspekte des eigenen Privatlebens.
Schröder findet offenkundig, dass er das Recht auf eine selbst bestimmte Gestaltung seiner Biografie hat. Und dass sein individuelles Leben nicht zwangsläufig weniger wichtiger ist als Loyalitäten gegenüber anderen, ob sie nun der Partei, der gesamten Öffentlichkeit oder seinen Wählern gegenüber bestehen. Schicht im Schacht. So einfach ist das. Soll die SPD doch sehen, wo sie bleibt.
Die steht nun vor einem altvertrauten Problem. Mit dem mussten sich große Parteien schon häufiger herumschlagen, selbst ohne individualistische Bedürfnisse ihrer einstigen Führungsspitzen: Im Schatten eines mächtigen Regierungschefs wächst kein Nachwuchs heran. Intern unumstritten und als Führungspersönlichkeit öffentlich anerkannt. Das gilt unabhängig davon, ob die Partei nach dem Ende einer Ära weiter regieren darf oder ob sie in die Opposition geschickt wird.
Die Union hat nach dem Rücktritt von Konrad Adenauer lange gebraucht, um sich personell zu erneuern. Die SPD trudelte nach der Abwahl von Helmut Schmidt viele Jahre orientierungslos von gescheitertem Kandidat zu gescheitertem Kandidaten. Möglicherweise liefert der Zustand einer Partei und einer Fraktion am Ende der Amtszeit eines Bundeskanzlers verlässlicheren Aufschluss über dessen Stärke oder Schwäche als jedes andere Merkmal.
Mit der historischen Bedeutung muss das nichts zu tun haben. Ludwig Erhard, der ein schwacher Kanzler war, hat die wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg bestimmend geprägt. Auch Willy Brandt war als Kanzler schwach – und dennoch ein Staatsmann von überragender Bedeutung. Von Helmut Schmidt lässt sich das nicht sagen.
War Bundeskanzler Helmut Schmidt eigentlich je mehr als ein guter, etwas technokratischer Verwalter des Staates? Darüber lässt sich streiten. Was hingegen kaum zu bestreiten ist: Er war ein starker Kanzler. Wenn Stärke bedeutet, sich sowohl nach innen als auch nach außen durchsetzen zu können, mögliche Rivalen instinktsicher zu erkennen und schnell entweder einzubinden oder auszugrenzen. Und neben sich niemanden hochkommen zu lassen.
Es liegt gewiss eine makabre Ironie darin, dass beide starken sozialdemokratischen Kanzler in Nachkriegsdeutschland ausgerechnet an ihrer eigenen Partei gescheitert zu sein scheinen. Aber Geschichte wiederholt sich eben als Farce: Was Helmut Schmidt noch mit einiger Berechtigung für sich in Anspruch nehmen konnte, geronn bei Gerhard Schröder zur Pose, zum historischen Zitat. Es war nicht die Fraktion, die ihm die Gefolgschaft verweigerte. Er selbst hatte beschlossen, dass es an der Zeit sei für eine Zäsur.
Dennoch – oder vielleicht sogar gerade in diesem Sinne – war auch Gerhard Schröder ein starker Kanzler. Weswegen die SPD mit seinem Erbe eben noch ihre liebe Not haben wird. Peter Struck als Außenminister wäre eine Übergangslösung, kein Symbol für Erneuerung. Das macht die Partei in einer großen Koalition erpressbar: Solange sie führungslos ist, so lange kann sie das Bündnis nicht aufkündigen und auch keine Neuwahlen anstreben.
Gerhard Schröder hat seiner Partei die Teilhabe an der nächsten Regierung gesichert, und er kann für sich reklamieren, sie in eine viel versprechende Ausgangsposition hineinmanövriert zu haben. Alles Weitere liegt nun bei denen, die den Scherbenhaufen zusammenklauben müssen, den er hinterlassen hat. Man beginnt zu verstehen, warum der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering ihm vor einigen Jahren die in einem Zeitungsinterview öffentlich angetragene Freundschaft verweigert hat.
Immerhin: Gerhard Schröder war ein starker Kanzler. Wer hätte ihm das zu Beginn seiner Amtszeit schon zugetraut? Sein kurzzeitiger Finanzminister Oskar Lafontaine stand ja mit seinem Glauben nicht alleine da, dass ein anderer – nämlich er selbst – die Richtlinien der Politik bestimmen könne, während der Amtsinhaber lediglich den Kanzlerdarsteller gab.
Lafontaine hat sich geirrt und mit ihm viele andere. Der Irrtum ist verzeihlich. Lange – allzu lange – wurde Schröder nur zugetraut, die Rolle des Schmierenkomödianten auszufüllen. Er selbst schien zu glauben, das Amt des Kanzlers ließe sich von Bruder Leichtfuß ganz mühelos ausfüllen.
Regieren mache „Spaß“, meinte der ziemlich frisch gewählte Kanzler seinerzeit. Er wurde beobachtet, wie er im Bundestagsrestaurant über Stunden hinweg mit alten Kumpanen dem Rotwein zusprach. Als Gast von Thomas Gottschalk trat er einer Fernsehshow auf. Mit dicken Zigarren ließ er sich fotografieren, auch mit teuren Anzügen. Er war der „Brioni“-Kanzler.
Politische Inhalte? Auf die schien es am Anfang nicht so sehr anzukommen. Export von U-Booten, 630-Mark-Jobs, Bodentruppen im Kosovo, Verbot der atomaren Wiederaufarbeitung, der Zeitplan der Steuerreform: Zu (fast) allem und jedem schien dieser Kanzler in kürzester Frist seine Meinung zu ändern. Irgendwann änderte sich das Bild. Der Kanzlerdarsteller wurde zum Kanzler.
Wann genau war das der Fall? Es ist bezeichnend, dass der Zeitpunkt dafür sich nicht genau bestimmen lässt. Wäre es anders, dann stünde auch die Fußnote fest, mit der Schröder dereinst in den Geschichtsbüchern erwähnt werden wird. Da dies nicht der Fall ist, liegt die Schönheit – oder der Abscheu – im Auge des Betrachters. Der Rücktritt von Lafontaine, der Kosovo-Krieg, die Anschläge vom 11. September, die Vertrauensfrage im Zusammenhang mit Afghanistan oder die Agenda 2010: Die Entscheidung darüber, welchem Datum welche historische Bedeutung beigemessen wird, sagt viel mehr über den Standpunkt der Analytiker aus als über den Gegenstand ihrer Analyse.
Gerhard Schröder wird nicht mehr lange deutscher Bundeskanzler sein. Was wird von ihm bleiben? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich diese Frage kaum beantworten. Historische Etiketts sind klein, mehr als zwei oder drei Wörter passen im Regelfall nicht drauf. Adenauer: Westbindung. Brandt: Ostpolitik. Kohl: Kanzler der Einheit. Schröder: Abwarten.
Friedenskanzler? Kaum. Mit seinem öffentlichen Widerstand gegen den – dummen, verlustreichen und folgenschweren – Krieg gegen den Irak ging Schröder 2002 auf Stimmenfang. Erfolgreich. Aber das historische Urteil ist präziser und weniger oberflächlich, als die knappen Zuschreibungen vermuten lassen könnten.
Die Tatsache, dass der sozialdemokratische Kanzler mit dem Feldzug gegen Jugoslawien das Land in einen – sehr zurückhaltend formuliert – völkerrechtswidrig umstrittenen Angriffskrieg geführt hatte, dürfte die Zuschreibung des „Friedenskanzlers“ als unumstrittene Kennzeichnung dauerhaft verhindern. Das würde selbst dann gelten, wenn er seinen Widerstand gegen den Irakkrieg nicht mit Entscheidungen wie der Genehmigung von Überflugrechten für US-Flugzeuge geschwächt hätte.
Vielleicht hätte Schröder der deutsche Kanzler werden können, der für europäisches Selbstbewusstsein gegen unkontrollierte US-Großmannssucht gestanden hätte. Aber dafür hätte er sich wohl mehr für Europa interessieren müssen, als er das getan hat. Und die Agenda 2010? Ist sie ein tapferer Anfang für den überfälligen Umbau der Bismarck’schen Sozialsysteme? Oder hat Gerhard Schröder einfach die Sozialdemokratie verraten, indem er versäumte, die Gründe für die Krise der Sozialsysteme klar zu benennen – unter anderem die Finanzierung der deutschen Einheit und andere versicherungsfremde Leistungen?
Fest steht: Schröder wird demnächst nicht mehr Kanzler sein. Fest steht auch: Eine Ära geht zu Ende. Wie sie historische beurteilt werden wird, bleibt abzuwarten. Was vielleicht kennzeichnend ist für die Umbruchsituatiion, in der wir leben.