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: Die Spuckorgiensitzung

„R100“ (Japan 2013; Regie: Hitoshi ­Matsumoto)

Nur für Hundertjährige verständlich sei dieser Film, heißt es einmal im Film selbst, nach vierzig Minuten, als dann doch endlich die Titel­ein­blendung kommt: „R100“. Was eine sehr spitze Zielgruppe wäre, sogar in Japan. Denn „R 15“ und „R 18“ sind die japanischen Entsprechungen der deutschen FSK-Altersfreigaben, es geht also auch um die Darstellung von Sex und Gewalt. Auf den ersten Blick gibt es in „R100“ von beidem mehr als genug. Der Film dreht sich um einen Mann namens Takafumi Katayama, er ist Angestellter in der Möbelabteilung eines Kaufhauses, der durch eine Tür mit der Aufschrift „Bondage“ geht und zur Belebung seines wenig lebendigen Lebens mit einem pillenschluckenden Herrn einen BDSM-Kontrakt schließt.

Für ein Jahr treten nun Dominas in sein Leben. Und sie treten und versohlen auch ihn. Mit einem wuchtigen Tritt ins Gesicht, einem Sturz dann treppab geht „R 100“ gleich in medias res. Die Dominas prügeln ihn, peitschen ihn, hier und da und überall, aus heiterem Himmel, auf offener Straße, im Café, auf der Toilette, die SM-Aktionen sind entgrenzt. Und sie entgrenzen sich weiter.

Ein Höhepunkt folgt dem nächsten, darunter eine Spuckorgiensitzung. Vorgeschichte kommt später. Und dann, wie gesagt, nach vierzig Minuten eine Zäsur, die alles, was man zuvor sah, als Film präsentiert, den sich ein selbst hundertjähriger Regisseur ausgedacht hat. (Es ist eine Hommage an Seijun Suzuki, den großen alten Mann eines Kinos des ästhetischen und sonstigen Exzesses.)

Takafumi hat einen kleinen Sohn, er hat eine Frau. Sie liegt im Koma. Der Sohn und die Frau werden hineingezogen in Takafumis BDSM-Welt. Sie ist übrigens kolossal entfärbt, diese Welt, die Bilder tendieren ins Beige-Grau-Schwarz-Weiße.

Die Sadomaso-Orgasmen führen zu einer doppelten Deformation. Takafumis Gesicht geht froschartig ins Breite, billige Trickeffekt-Wellen entstellen das Bild. Das ist komisch, es ist nicht sonderlich drastisch. Die Effekte steigern sich, die Geschichte nimmt Wendungen, die null Rücksicht nehmen auf ­Logik, Realismus, Plotpoint-Dramaturgie.

Hitoshi Matsumoto, in Japan ein großer Comedy-Star, balanciert in seinem vierten Film als Regisseur mal wieder auf einer Grenze, auf der sonst so niemand balanciert. Bislang hat er sich mit einem weinerlichen Superhelden („Big Man Japan“) und einem todtraurigen Samurai („Saya-zamurai“) befasst – „Symbol“, der dritte Film, ist zu seltsam, um ihn in einem Satz zu beschreiben.

Stets entwirft Matsumoto dabei eine Welt, die zur Wirklichkeit, die wir kennen, sehr spezielle Beziehungen unterhält. Und nicht an diesen Beziehungen ist er interessiert, nicht an der Wirklichkeit. Immer ist es die Eigenlogik, die ihn fasziniert. Er gewinnt sie den Parametern seines bizarren Weltentwurfs ab.

Das ist nicht stringent, darum ist, was geschieht, niemals erwartbar. Und doch regiert nie gänzlich die Willkür. Deshalb akzeptiert man zum Beispiel die Wendung ins Selbst­reflexive. Sie nimmt der Sache im Grunde auch nichts. Und darum wundert man sich nicht, wenn die CEO des Bondage-Clubs auftaucht und so gar nicht den Vorstellungen entspricht, die man, wenn überhaupt, von der CEO eines Bondage-Clubs hatte. Die Grenze zwischen Realität und Exzess spielt ohnehin keine erhebliche Rolle, sie ist so elastisch wie Takafumis Gesicht, so elastisch wie die entsättigten Bilder mit ihren albernen orgasmusinduzierten Wellen. Das grandiose Finale übrigens, so viel sei verraten, ist eine hochexplosive Ode an die Freude.

Überhaupt: die Musik. Mangels besser passender Begriffe gelten Matsumotos Filme als komisch. Sicher, das sind sie. Aber er ist auch ein etwas aus der Art geschlagener Erbe des Surrealismus, der sich auf seine niederen Instinkte verlässt.

Ekkehard Knörer

Die DVD ist ab rund 15 Euro im Handel erhältlich