: Wenn keiner nach der Schulpflicht fragt
In Deutschland müssen alle Kinder in die Schule gehen. Alle? Für Flüchtlingskinder gilt das nicht. Auch wenn die Familien schon jahrelang in der Bundesrepublik leben, schalten sich die Behörden oft nicht ein. So wird der Schulbesuch zu einem Privileg, um das man lange kämpfen muss
AUS BERLIN SOPHIE HAARHAUS
Yasemin* hat es geschafft. Sie hat erreicht, wofür sie so lange gekämpft hat. Die 16-jährige Kurdin darf endlich zur Schule gehen. Obwohl sie seit acht Jahren mit ihren Eltern in Berlin lebt, ist das nichts Selbstverständliches. Denn Yasemin gehört zu den Menschen, für die andere Rechte gelten. Oder vielleicht gar keine Rechte.Yasemin ist ein Flüchtlingskind. In Deutschland scheint das Grund genug dafür zu sein, dass sie für die Rechte, die eigentlich jedem offen stehen, kämpfen muss. Für das Recht, zur Schule zu gehen zum Beispiel.
Überall in Deutschland passiert es, dass Kinder in schulpflichtigem Alter zu Hause bleiben. Dass ihre Eltern für ihren Schulbesuch kämpfen müssen. Oder sogar sie selbst.
Es gibt verschiedene Gründe dafür, dass diese Kinder nicht zur Schule gehen. Manchmal sind es die Eltern, die sie nicht schicken. Manchmal sind es die Schulen, die sie nicht nehmen. Und manchmal sind es die Behörden, die sie nicht lassen. All diesen Fällen bleibt aber eins gemeinsam: dass Kindern ein Menschenrecht verwehrt bleibt. Das Recht auf Bildung.
Eigentlich hatte Yasemin Glück, als sie mit neun Jahren mit ihrer kurdischen Familie aus der Türkei nach Berlin kam, wo sie der Schulpflicht unterlag. Nur ließen ihre Eltern sie nicht zur Schule gehen. Und niemand fragte nach.
Gerade in bildungsfernen Familien passiert es immer wieder, dass die Kinder zu Hause bleiben. Und auch wenn die Familien schon jahrelang in Deutschland wohnen, ohne dass ihre Kinder zur Schule zu gehen, schalten sich die Behörden nicht ein. Während bei einer deutschen Familie sofort Behörde und Sozialarbeiter vor der Tür stehen, wenn die Kinder nicht in der Schule erscheinen, scheint sich für die Flüchtlingskinder kaum jemand zu interessieren. So geraten diese Kinder in Vergessenheit.
Viele Eltern sind als Asylbewerber in Deutschland viel zu sehr mit ihrer eigenen Situation beschäftigt. Der Schulbesuch der Kinder rückt da in den Hintergrund. Oft sind die Eltern auch nur ungenügend über Schulpflicht und Schulrecht informiert. Nur wenige kennen ihre Rechte, und noch weniger haben den Mut, für diese zu kämpfen.
Die körperbehinderte Tschetschenin Natalia* ist eine von denen, die es versucht haben. Seit ihrem 14. Lebensjahr ist sie in Deutschland. Und seitdem kämpft die heute 20-Jährige, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, für ihre Bildung. Mehr als zwei Jahre ging sie von Schule zu Schule, um immer wieder abgewiesen zu werden. Die Begründung war fast immer die gleiche: Ihr Deutsch sei nicht gut genug.
„Behinderte Flüchtlingskinder haben es besonders schwer“, sagt Georg Classen vom Flüchtlingsrat in Berlin. Während die Behörden Kosten für Integrationshilfen sparen wollen, sparen die Schulen Mühen. Das allerdings, meint Classen, widerspreche der UN-Kinderrechtskonvention gleich doppelt: nach der haben nämlich alle Flüchtlingskinder das Recht auf Bildung – und behinderte Kinder das Recht auf besondere Förderung. Tatsächlich werden Migranten- und Flüchtlingskinder mit normaler Begabung immer wieder auf Sonderschulen geschickt, nur weil sie in der normalen Schule wegen fehlender Sprachkenntnisse aufgefallen sind.
Auch Natalia fand schließlich einen Schulplatz – in einer Schule für Lernbehinderte. Sobald ihr Deutsch gut genug sei, sagte man ihr damals, sollte sie in die richtige Klasse integriert werden. Aber dann war es längst zu spät, um noch den Anschluss zu finden.
Von so genannten Vorbereitungsklassen, die Flüchtlingskinder auf die 8. oder 9. Klasse vorbereiten sollen, hatte Natalia nie gehört. „Wie denn?“, sagt sie heute, „ich konnte ja kein Deutsch.“
Aber auch die Vorbereitungsklassen haben ihre Tücken. Die meisten nämlich befinden sich an Hauptschulen. Und da selten geprüft wird, welche Qualifikationen die Flüchtlingskinder schon mitbringen, landen Schüler mit hohem Qualifikationsniveau an Hauptschulen, wo sie Jahre verlieren, in denen sie intellektuell unterfordert werden.
Natalia ist heute 20. Ihr Traum ist es, endlich einen Realschulabschluss machen zu können. Früher, in Russland, im Krieg, hatte sie davon geträumt, Psychologin zu werden. Angekommen in Deutschland, musste sie schnell lernen, dass das kein Traum für Flüchtlingskinder ist.
Ob die Flüchtlingskinder noch träumen können, hängt oft an dem Engagement einzelner Lehrer, Schulen und Behördenmitarbeiter. Immer wieder drohen Schulen den Eltern, die Kinder nach Hause zu schicken, können diese keine gültige Aufenthaltserlaubnis vorlegen. „Schule und Behörde gehen nach dem Status und nicht nach dem Wohl des Kindes“, empört sich Walid Chahrour vom Arbeitskreis Junge Flüchtlinge in Berlin. „Kinder mit Flüchtlingsstatus bekommen die Benachteiligung zu spüren.“ Er kennt Fälle, in denen wurden Kinder von der Schule abgeholt – und in Abschiebehaft genommen. Niemand sagte etwas. Er kennt aber auch den umgekehrten Fall, dass sich Lehrer aktiv für ihre Schüler einsetzten.
Aber es ist nicht nur die Willkür Einzelner, die über Schicksal und Träume der Flüchtlingskinder entscheidet. Es ist auch das Gesetz. Schulpolitik ist in Deutschland Ländersache. Während in einigen Bundesländern jedes Kind unabhängig von seinem Status schulpflichtig ist, besteht in anderen für Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthaltsstatus nur ein „freiwilliges Schulbesuchsrecht“. Das bedeutet, dass sich der Staat der finanziellen Verantwortung entzieht. Die Schulpflicht bedeutet eben auch für den Staat die Verpflichtung, einen Schulbesuch zu ermöglichen. In Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland bleibt es den Eltern selbst überlassen, ihren Kindern einen Schulbesuch zu ermöglichen – und ihn auch zu finanzieren. Bei Flüchtlingsfamilien reicht es aber oft nicht für ein Busticket, für Schulbücher und Klassenfahrten.
„Terre des hommes Deutschland e.V.“ gründete Anfang des Jahres eine politische Initiative zur Umsetzung der Schulpflicht von Flüchtlingen unabhängig von deren Aufenthaltsstatus. Seitdem haben vier Bundesländer ihr Schulgesetz im Sinne der Flüchtlingskinder geändert. Aber vier weitere stehen noch aus. Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, plädiert für eine bundesweite Schulpflicht für Flüchtlingskinder. „Für Flüchtlingskinder herrscht im deutschen Bildungssystem keine Chancengleichheit.“
Als Yasemin mit 15 Jahren selbst versuchte, eine Schule zu finden, wurde sie abgewiesen mit der Begründung, bald 16 und damit in Berlin nicht mehr schulpflichtig zu sein. Dass sie es schließlich doch geschafft hat, weil der Stadtrat eingriff und ihr einen Schulplatz besorgte, war Glück. Und eine Ausnahme.
*Namen von der Red. geändert