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Archiv-Artikel

Gimme shelter

DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER

Menschen ohne Wasser ins sandige Nichts zu schicken, das ist von alttestamentlicher Verdorbenheit

Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab Jesaja 64

Das Schönste in diesen Tagen sind die Rufe der Wildgänse. Frühmorgens, wenn sie sich noch in der Dunkelheit aufgemacht haben und aufgeregt alle Thermikanweisungen durchgegeben werden, dann klingen sie anders als tagsüber. Da sind sie schon hoch oben und nutzen mit ruhigem Flügelschlag die Winde. Mit schrillem Schrei nach Süden. Es klingt sehnsüchtig, geheimnisvoll und verlockend und endgültig. Ihr Rufen erinnert an Grenzenlosigkeit. Und an Tod. Nur die Hälfte von denen, die losfliegen, kommen an. Die anderen bleiben irgendwo entkräftet hängen. Oder sie sterben.

Und schon ist man doch wieder in Marokko, in Ceuta oder Melilla und sowieso in Kaschmir. Da können die Wildgänse noch so schön schrill schreien, fast hat man ein schlechtes Gewissen, dass der Herbst so bunt ist, die Sonne so warm scheint und man ab jetzt die nächsten 4 Jahre noch nicht mal mehr die „Tagesschau“ gucken muss, weil es einen wirklich nicht die Bohne interessiert, was hierzulande passiert. Wenn die Kanzlerin erzählt. Was die Kanzlerin zu erzählen weiß. Mit ihren neuerdings ewig hochgerissenen Armen, als halte sie ihr ganzes Weltbild in einem Karton. „So groß, so quadratisch und so praktisch“. So wie’s derzeit überhaupt gern getan wird. Als ob alle Politiker den gleichen Coach aus der Pantomimenschule hätten, der sie ermahnt, ja nur tüchtig mit beiden Armen zu wedeln, damit sowohl die rationale wie die emotionale Seite zum Ausdruck kommt. Wir reißen die Arme nach oben und fuchteln mit den Händen, als seien wir plötzlich ein Volk, dessen neapolitanische Wurzeln jahrhundertelang verschüttet waren. Ein Volk, das nach 30 Jahren Woody-Allen-Film-Erziehung erlaubt, dass wieder mit den Händen geredet werden darf. Oder zumindest ein Volk mit wirklich mal temperamentvollen Politikern.

Waren schon die Wochen bis zur Selbstfindung schwer erträglich – es verging kein Abend, ohne dass Thomas „seh-ich-noch-gut-aus?“-Roth mit vielen Worten im Fernsehen verkündete, dass er nichts weiß – so scheint sich der Journalist jetzt auf den Zweitberuf als Züchologe vorzubereiten. Alles nimmt gerne teil an bananigen Diskussionsrunden über die Persönlichkeitsstruktur von Angela oder Gerd. Und am Ende immer wieder die einzige aller großen Fragen:Was will die Frau? Nachdem vorher besprochen wurde: was ist zu männlich, was heutzutage auf jeden Fall weiblich und ob man das wohl überhaupt fragen darf.

Ist Angela wirklich eine Frau, und wenn ja, kann sie ihr neues Styling und vor allem die Frisur halten, wenn erst mal der Sturm des Bundeskanzlerinnenalltags über sie hinwegfegt. Oder kommt sie morgens frisch aus der Uckermark mit Gummistiefeln und Flanellhemd ins Kanzleramt geschlappt, und da stehen schon der auf Sean Connery getrimmte schwäbische Friseur bereit, die zu unerwartetem Ruhm gekommene Kostümmacherin aus Mitte. Zudem turnt Samy Molcho schnell ein paar Lockerungsübungen vor, die körpersprachlich absolut korrekt wirken. Hier möchte ich allerdings vor zu viel Turnvater-Jahn-mäßiger Zackigkeit warnen – heutzutage geht man doch mehr in die ausholende Tai-Chi-Figur oder elegante Yoga-Bewegung. Ich empfehle da übrigens durchaus jedem Politiker die kleine Herz-Meditation – schon nach dreimaligem Üben wirkt sie Wunder. Jeder hat einen lieb und man selbst eine starke Brust.

Aber ob populär oder fester Busen: In Deutschland wird das wieder Jahrzehnte dauern, wenn uns nicht vorher die Chinesen einkassiert haben und wir zumindest zur Tai-Chi-Entschleunigung zwangsverpflichtet wurden.

Die Berliner SPD-Parteizentrale wenigstens scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben: wegen der großen Nachfrage wird dort demnächst der Tai- Chi-Kurs wiederholt, wie man einem Newsletter entnehmen darf.

Ja, in diesen Tagen wünscht man sich doch mehr vom Handwerk des Wegguckens, wie man es uns im Hinblick auf Italiens Lampedusa-Lager und Nordafrikas Spanien vorgemacht wird, wo sich die Marokkaner gerade mit schmutziger Arbeit den Eintritt ins Betroffenheit heuchelnde und wegguckende Europa einkaufen.

Früher durften sie hier bei der Müllabfuhr oder im Zirkus arbeiten, jetzt dürfen sie die noch Dunkleren und noch Ärmeren und noch Verfemteren vertreiben. Wie der Burgherr auf seiner Festung geriert sich das Projekt Europa und schickt seine dreckigen und zerlumpten marokkanischen Söldner gegen diejenigen los, die auch am Tisch mitessen wollen.

Die an einen Ort der Aufklärung und Freiheit glauben. Europa, das große Versprechen wird in diesen Tagen und Wochen stündlich gebrochen – und hier denkt man darüber nach, wie unheimlich uns die kühle Kanzlerin ist und warum sie sich nicht richtig über die Macht freuen kann.

Wir können über Frisuren und Kopftücher, über Partnerwahl im Internet und anatolische Zwangsverheiratung, über westliche Werte und islamische Menschenrechtsverletzungen lamentieren, aber keine westliche Regierung gebietet dem Einhalt, was gerade gegen unser aller apostrophierten Glauben und Werte vor unserer Haustür passiert.

Der freie Wettbewerb der Lager ist in vollem Gange. Wie sagte ein Mitglied der Lega Nord neulich folgerichtig zur Lage des Kontinents: Wenn die Engländer ein Lager in Nordafrika planen und die Spanier riesige Stacheldrahtzäune um ihr Land hochziehen, dann werden wir wohl nicht wegen eines 5-Sterne-Lagers auf Lampedusa Theater kriegen.

Nein, von Tüten über dem Kopf oder Koranverhöhnungen ist noch nichts zu hören gewesen. Die wenigsten Gefangenen dort haben die Surensammlung bei sich, und sonst gibt es nur kleinere Demütigungen, wie stundenlanges Sitzen auf Jaucheböden oder kurze Schläge bei Ungehorsam dem Wachpersonal gegenüber.

50 und 60 Jahre nach Gulag und Auschwitz hätte es doch keiner für denkbar gehalten, dass wir in Europa wieder von geduldeten Menschenlagern sprechen würden.

Marokko erkauft sich gerade den Eintritt ins Betroffenheit heuchelnde und wegguckende Europa

Die Ärzte ohne Grenzen entwickeln sich allmählich tatsächlich zu den einsamsten Rufern in der Wüste. Gegen Tsunamis, Wirbelstürme und Erdbeben kann man nichts machen, aber auch hier nur achselzuckend zuzugucken, wie Menschen ohne Wasser und Nahrung ins sandige Nichts geschickt werden, das ist von nahezu alttestamentlicher Verdorbenheit.

Es bietet sich ein kleiner mahnender Verweis an: als Abraham seinerzeit zuerst seine ausländische Sklavin Hagar schwängerte und sie dann mit ihrem Baby Ismael in die Wüste vertrieb, wurde sie von einem Engel gerettet, und aus Rache hat Ismael dann erst die Araber und dann den Islam gegründet … Eines der ersten Bilder, die ich nach dem Erdbeben in Kaschmir sah, war eine Frau, die vor ihrem zerstörten Haus mit dem Koran in der Hand stoisch hin und her spazierte und laut betete.

Ich guckte weg von dem laufenden Fernseher in den Himmel und lauschte wartend auf die Rufe der ziehenden Wildgänse.

Fotohinweis:

Renée Zucker lebt als freie Publizistin in Berlin.