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„Trillionen von Zellen“

Tanz Das Gastspiel des Cullberg-Balletts wird ein Höhepunkt bei Tanz im August. Die Choreografin Deborah Hay erzählt, wie es zur Musik von Laurie Anderson kam und wie sie das Tanzen fast schon mal aufgegeben hatte

von Astrid Kaminski

Was, wenn der Körper ein Schwefelbad ist? Meditativ blubbernde, kapriziöse Gelassenheit breitet sich aus, wenn Deborah Hay mit Tänzer*innen arbeitet. Es sieht fast mühelos aus, soll aber verdammt schwer sein. Deborah Hay ist zurzeit überall. Berliner Valeska-Gert-Gastprofessur, Europatournee mit dem weltbekannten schwedischen Cullberg-Ballett, Station bei Tanz im August, nebenbei Unterricht in der Tanzfabrik.

Sie sieht toll aus mit ihren 76 Jahren, präsent, aber auch etwas müde. Ihre Stimme ist im Energiesparmodus, so leise, dass die Musik in der Hotellobby ausgestellt werden muss, um sie zu verstehen. Trotzdem nimmt sie sich Zeit. Ein Gespräch über ihr Comeback Anfang der nuller Jahre, ihr aktuelles Stück, und darüber, woher das Blubbern kommt.

taz: Deborah Hay, Sie sind Choreografin, haben aber erst mit 60 Jahren Lust am Choreografieren bekommen. Warum so spät?

Deborah Hay: Ich war weniger interessiert an der Kunst, eine eigene Welt zu erschaffen, als an der Welt, die mir das Tanzen eröffnet hat. Plötzlich interessiere ich mich dafür, wie man von A nach B kommt und wie aus C, D, F, G eine Choreografie wird. Bis dahin ging es mir Tag für Tag einzig darum, durch den Akt des Bewegens die verschiedenen Tänze zu entdecken, die jeweilige Äußerung davon.

Planeten sind Planeten, Tänze sind Tänze – ich erinnere mich an diese Worte aus einem Vortrag von Ihnen. Sie stehen dafür, dass sich Tanz dem Verständnis nie vollständig erschließt. In diesem Bild gefragt: Was war der entfernteste Planet, auf dem Sie je waren, und wie fühlte es sich an?

Ja, ein Tanz ist ein Kosmos für sich selbst, er hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. Meine weiteste Reise? Inzwischen benutze ich keine Bilder mehr, aber als ich es noch tat, kam ein Bild von einem Als-ob-indianischen Ritual auf. Ich wollte es nicht illustrieren oder Ähnliches, sondern durch meinen Körper erfragen, was es mit diesem Als-ob-Ritual auf sich hatte. An einem gewissen Punkt hatte ich mich so weit hineinbewegt, dass nichts mehr vom Als-ob-Ritual übrigblieb. Er war verschwunden. Komplett gelöscht, sogar die Erinnerungen.

Das klingt wie die Zeile von Beckett, die Sie gelegentlich zitieren: Genau genommen glaube ich, niemals irgendwo gewesen zu sein. Aber gab es auch einmal den umgekehrten Fall, ein ganz klares Gefühl von Evidenz?

Ja. In den 1980ern entwickelte ich ein Bild, das ich „Still Summer Hill“ nenne. Mein Körper konnte dieses Bild sehr klar umsetzen. Es ist Ihnen ja wahrscheinlich bekannt, dass ich die Trillionen von Zellen meines Körpers als meine Arbeitsgrundlage bezeichne. Sie waren komplett auf „Still Summer Hill“ geeicht. Dieser Art von körperlicher Intelligenz habe ich mich verschrieben. Aber nun bin ich nicht mehr an Bildern interessiert.

Aber Sie arbeiten mit einer Art suggestiver Fragen nach einem Was-wäre-wenn-Modell. Was wäre, wenn die Trillionen Zellen meines Körpers dies oder jenes erleben. Kommt dieses Verfahren dem Bilderproduzieren nicht sehr nah?

Deborah Hay

Deborah Hay war 1962 Mitbegründerin des Judson Dance Theater, der fast schon mythischen Keimzelle des Postmodern Dance. Als eine der ersten Tanzkünstlerinnen entwickelte sie in den 60er Jahren Performances für Museen wie das Whitney Museum of American Art, das MoMA und das Moderna Museet in Stockholm. In den 70ern zog die gebürtige New Yorkerin in eine Kommune in Vermont und später mit ihrer Tochter in die texanische Aussteigerstadt Austin. Nach Deutschland wurde sie zum ersten Mal 2008 vom Choreografen William Forsythe geholt. Im ersten Halbjahr 2016 hatte sie die Valeska-Gert-Gastprofessur inne, eine Einrichtung der Freien Universität, des DAAD sowie der Akademie der Künste.

Am 30. und 31. August gastiert sie nun zum zweiten Mal beim Festival Tanz im August, in diesem Jahr mit dem renommierten Cullberg-Ballett und der Choreografie „Figure a Sea“.

Wenn man eine Frage durch alle Zellen seines Körpers erfährt, hat man schlicht keine Zeit für Bilder. Die Zeit vergeht. (Stille. Lachen)

Sprache ist in jedem Fall ein wesentliches Element für Ihren Tanz.

Sicherlich. Sie ist mein Handwerk. Mein Stück „Figure a Sea“ für das Cullberg-Ballett ist – auch wenn das die Zuschauer kaum mitkriegen – eine Sprachchoreografie. Meine Choreografie besteht darin, die Sprache zu finden, die die Tänzer, mittels der Fragen, das ganze Stück lang bewegt.

Sie sind dafür bekannt, lieber mit Stille als mit Musik zu arbeiten. Überraschenderweise kam dann aber für „Figure a Sea“ die Musik von Laurie Anderson ins Spiel.

Das war ziemlich schwierig. Am Anfang wusste ich gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Das Genie in dieser Sache ist der Soundtechniker Martin Ekman. Mit Lauries Erlaubnis konnte er die 18 Samples, die sie für den Tanz geschrieben hatte, frei kombinieren.

Aber wie kam die Zusammenarbeit überhaupt zustande?

Kompletter Zufall. Laurie und ich kannten uns aus New York. Wir waren keine Freunde, aber ich denke, man kann sagen, dass wir uns schätzten. Als sie dann einmal mit dem Kronos Streich-Quartett nach Austin kam, haben wir zusammen zu Abend gegessen. Wir haben ziemlich bald herausgefunden, dass wir beide falsche Hüften haben, und uns fabelhaft über falsche Hüften unterhalten. Auch über alles andere, Mädchenangelegenheiten … Als wir uns verabschiedeten, sagte Laurie: Lass uns Kontakt halten. So war es dann auch.

Die Musik scheint mir melancholischer als der Tanz.

„Tanz ist ein Kosmos für sich selbst, er hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten“

Deborah Hay

Ja, sie hat sehr melancholische Züge. Zum Zeitpunkt unserer Zusammenarbeit war es noch nicht lange her, dass Lou [Reed, der Ehemann von Laurie Anderson] gestorben war.

Sie sind selbst ausgebildete Tänzerin, bekamen schon früh Tanzunterricht von Ihrer Mutter, später arbeiteten Sie mit Merce Cunningham.

Ja, ich war damals mit Merce Cunningham auf Tour, aber Spaß gemacht hat es mir nicht.

Eine schlechte Erfahrung?

Keine befriedigende, einfach nicht interessant für mich. Es inspirierte mich nicht. Glauben Sie mir, ich liebe die Arbeiten von Cunningham – aber eben nur so lange, wie ich sie nicht selbst tanzen muss. Mein Wunsch war es, von nichtprofessionellen Tänzern zu lernen, sie zu beobachten, wie sie unter ungewöhnlichen Bedingungen reagierten. Aber dann sah ich Ros Warby ihre Adaption meines Solos „Fire“ performen. Und da erlebte ich ein unglaubliches Niveau an gleichermaßen Durchlässigkeit wie an Klarheit und Humor.

Und dann legten Sie los?

Zu dieser Zeit bewarb ich mich gerade für eine Arbeit in einem Pop-up-Store in Austin, Texas, wo ich seit 1976 wohnte. Ich war drauf und dran, dem Tanz den Rücken zu kehren. Das habe ich in einem Brief an einige meiner Partner von den Theatern damit begründet, dass ich einfach nicht so weitermachen konnte wie bisher: mir Jahr für Jahr neue Überlebensstrategien einfallen zu lassen. Allerdings wollte ich noch eine Sache verwirklichen, ein Stück zu machen für Tänzer von dem Kaliber von Ros Warby. Das tat ich tatsächlich, das Quartett „Match“. Und das hat mein Leben verändert. Auf einmal interessierten sich die Veranstalter für meine Choreografie.

Sagen Sie damit, das die postmoderne Ideologie von Alltagsbewegung oder pedestrian movement Sie in eine Sackgasse geführt hat?

Ich würde nie das Wort pedestrian [Fußgänger] im Zusammenhang mit Bewegung verwenden. Das empfinde ich gewissermaßen als verletzend. Ich bin bis ans Ende des Möglichen gegangen mit meinem Ansatz, meine Tänze durch die Bewegung selbst als performatives Geschehen zu erleben. Wie bekommt man nichtprofessio­nelle Tänzer dazu? 40 Jahre lang habe ich an einer Sprache gearbeitet, die in der Lage ist, eine solche Erfahrung möglich zu machen. So habe ich meine Sprache des Performativen entwickelt, und daran anschließend entwickelte sich eben mein Interesse an Choreografie.

Das 50-jährige Jubiläum des Judson Dance Theater 2012 und die Tatsache, dass sich die bildende Kunst in den letzten Jahren mehr und mehr für Tanz interessiert, hat dazu geführt, dass die postmodernen Tänzer und Tänzerinnen Ihrer Generation auch im Museum gefeiert werden. Auch Ihnen wurde 2014 in Ihrer Heimatstadt Austin eine Ausstellung gewidmet. Reflektiert Ihr Cullberg-Ballett-Stück „Figure a Sea“ die Erfahrung eines White Cube auf der Bühne?

Genau dieses Andersherum ist die Intention der Inszenierung, des Lichts und des Setdesigns für „Figure a Sea“. Ich bringe den Galerie- oder Museumsraum auf die Bühne, um die unterschiedlichen Konventionen miteinander ins Spiel zu bringen. Die Inszenierung ist eine Art optischer Trick, der White Cube und Black Box miteinander verbindet.

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