portrait : Maulkorb für die Stimme der Armenier
Als der Richter am vorigen Freitag seine Strafe von sechs Monaten auf Bewährung verkündete, konnte Hrant Dink seine Tränen kaum zurückhalten. Er werde dieses Urteil nie akzeptieren. Wenn er seine Meinung nicht mehr sagen könne, werde er auswandern. Dink ist ein impulsiver Mann und machte kein Hehl aus seinem Entsetzen. Der Armenier leitet die armenisch-türkische Wochenzeitung Agos. Als deren Chefredakteur wurde der engagierte Journalist weit über seinen Leserkreis hinaus bekannt.
Durch seine Lust an der Debatte und sein emotionales Engagement wurde Dink in den letzten Jahren zu einer zentralen Figur im armenisch-türkischen Dialog. Kaum ein Podium zur Armenienfrage, auf dem er nicht präsent war. Als der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments im vorigen Jahr Vertreter der Armenier einlud, ihre Position vorzutragen, war es nicht deren religiöses Oberhaupt, Patriarch Mutafjan, sondern Dink, der über die Ängste und Hoffnungen der Armenier sprach.
Obwohl er dafür plädiert, nach vorn zu schauen, und nicht nur über die Vergangenheit definiert werden will, kommt Dink nicht um die Frage „Völkermord: ja oder nein“ herum. Auch wenn er die Ermordung hunderttausender Armenier beklagt, setzt er sich dafür ein, diese Frage nicht ins Zentrum der Debatte zu stellen. Der 55-Jährige redet lieber über Menschen als über Begriffe. Auf der Armenien-Konferenz in Istanbul vor zwei Wochen erzählte er von den Schicksalen mehrerer armenischer Familien, die während der Deportationen 1915 auseinander gerissen wurden. Dink möchte Verständnis wecken und fordert mehr Mitgefühl von der türkischen Mehrheitsgesellschaft.
In der öffentlichen Debatte streitet Dink für ein neues Staatsbürgerverständnis. „Die Menschen der Türkei“ möchte Dink statt des Türkentums in der Verfassung repräsentiert sehen, so dass auch Menschen mit armenischen Wurzeln sich dazuzählen können. Eine Artikelserie, in der er diese Überlegungen ausführt, ist ihm jetzt zum Verhängnis geworden. Er soll die Nationalhymne verunglimpft haben, weil er kritisierte, dass dort von der heldenhaften türkischen Rasse die Rede sei. Und er soll von vergiftetem türkischem Blut geschrieben haben, ein Zitat, dass willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen wurde. Das Urteil gegen Dink so kurz nach der Armenien-Konferenz und nach der Entscheidung über den Beginn von Beitrittsgesprächen mit der EU ist offenbar ein gezielter Versuch reaktionärer Justizkreise, den Reformprozess zu torpedieren. Als Antwort darauf hat die große, linksliberale Radikal die inkriminierten Artikel von Dink nachgedruckt. JÜRGEN GOTTSCHLICH