Heimat als Sandburg

Wie fühlt es sich an, wenn man keine richtige Heimat hat? Third Culture Kids, die in mehreren Kulturkreisen leben, wissen das

Illustration: Sena Tabea Nehme

Von Hannah Häger

Drei Jahre lebte ich in Thailand. Ich ging auf eine Deutsche Schule in Chiang Mai im Norden des Landes, mein Vater war dort Lehrer.

In der Schulpause, es sind die ersten Wochen, sitze ich mit Ella, einer Klassenkameradin, auf der Bank vor dem Klassenzimmer. Ella heißt nicht wirklich so, denn es ist ihr unangenehm, mit ihrem echten Namen in der Zeitung zu stehen. Wir beide kennen uns noch nicht gut, wir sitzen auf der Bank und schweigen. Unangenehm. Nach ein paar Minuten sagt Ella:

„Was ist Heimat?“

Am Ende dieses Satzes steht ein Fragezeichen, das macht ihn zu einer Frage. Diese sind gemeinhin dazu da, um „sich mit einer Äußerung an jemanden zu wenden und dabei eine Antwort, Auskunft, Erklärung oder Ähnliches zu erwarten“, sagt mir der Duden.

In Ellas Fall hat diese Frage allerdings eine ganz andere Bedeutung: Sie erwartet von mir keine Antwort. Sie fragt nämlich nicht mich, sondern sich selbst. Bei mir war ja klar: Meine Heimat ist Berlin. Aber was ist ihre?

Ella hat deutsche Eltern, wohnt in einem deutschen Internat, geht auf eine deutsche Schule. Deutsch ist ihre Muttersprache. Aber den Großteil ihres Lebens lebte sie in Bangladesch oder in Thailand. Ella ist ein Paradebeispiel für ein sogenanntes Third Culture Kid: Ein Kind, das zwischen zwei Kulturen aufwächst und gewissermaßen einer undefinierten dritten angehört.

Ella sprach nie über ihre Probleme oder ihre Gefühle. Sie wirkte auch Freunden gegenüber, auch mir gegenüber, etwas distanziert. Gerade deswegen hat mich dieser kurze Moment auf der Bank noch lange beschäftigt. Seitdem sind vier Jahre vergangen. Seitdem habe ich gelernt, dass Heimat nicht für jeden das Gleiche bedeutet.

„Aber du bist ja auch deutsch“, das bekam ich oft zu hören

Im Prinzip steht Heimat für eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Wächst eine Person in Berlin auf, so ist wahrscheinlich Berlin ihre Heimat. Sie entwickelt ein Gespür für die Stadt, ihre Bewohner, die Sprachmelodie und verbindet damit ein Gefühl der Geborgenheit, der Sicherheit und des Vertrauens – das Heimatgefühl.

Third Culture Kids wie Ella haben das nicht. Auch ich hatte das nicht, als ich mit meiner Familie in Thailand lebte. In der Deutschen Schule in Chiang Mai gab es eine Abneigung gegen Deutschland. Viele versuchten, sich eine Heimat zu schaffen, indem sie sich von dem Heimatland ihrer Eltern abgrenzten. Als jemand, der in Deutschland aufgewachsen war, galt ich zunächst als uncool und langweilig. Das hätte niemand so ausgesprochen, aber bei Diskussionen bekam ich oft zu hören: „Aber du bist ja auch deutsch.“ Die deutsche Sprache wurde durch Denglisch ersetzt, die Leute sagten „simple“ statt „simpel“, wer auf deutsche Begriffe beharrte, wurde beäugt oder ignoriert. Um dazuzugehören, musste ich meine Heimat, die ja nun einmal Deutschland war, aufgeben.

Nun schwebte ich in der Luft. In Deutschland wollte ich nicht mehr zu Hause sein, und in Thailand konnte ich nicht zu Hause sein. Während man in Berlin relativ einfach an einer anderen Kultur teilhaben kann, ist man in Thailand immer Ausländer. Das fängt bei der Hautfarbe an. Wer nicht aussieht wie ein Thai, ist kein Thai. Da stand ich mit meiner weißen Haut schlecht da. Ich wurde extrem unsicher und hatte Angst vor sozialer Interaktion mit Einheimischen sowie anderen Schülern. Denn nirgendwo konnte ich mich zugehörig fühlen. Wenn man sein Heimatgefühl nicht an einen Ort bindet, muss man etwas anderes finden. So wie Ella. Vier Jahre nach unserem ersten Gespräch in Thailand sagt sie mir:

„In der Heimat kannst du dich fallen lassen. Du fühlst dich geborgen, sicher, und alles ist dir vertraut. Das kann deine Familie sein, dein Freundeskreis oder ein Hobby, für mich zum Beispiel Fußballspielen. Heimat ist eine Sandburg. Man baut sie sich aus dem Sand, den man zur Verfügung hat. Manchmal gefällt einem etwas nicht und man baut es um. Manchmal verziert man sie mit Steinen oder Federn oder Muscheln, jeder macht es anders. Ab und zu bricht alles in sich zusammen, je nachdem, wo sie steht und woraus man sie baut. Aber irgendwann ist sie fertig und man kann sich daran erfreuen.“