: Drin sein ist alles!
Vor zehn Jahren begann die Entwicklung des Internets zum echten Massenmedium – völlig gegen den damaligen Zeitgeist, wo BTX, Windows 95 und hausbackene Onlinedienste als das Nonplusultra galten. Die rasante Entwicklung war so nicht geplant – und hat in vielen Bereichen den Alltag entscheidend verändert
VON DIETER GRÖNLING
Vielleicht hätten sie es bei den alten Waschsalon-Münzen belassen sollen. Es ist jedes Mal das gleiche Spiel: Da betritt eine junge Mutter mit Kinderwagen und zwei Plastiksäcken voller schmutziger Wäsche den Schöneberger High-Tech-Waschsalon, studiert die Anleitung an der Wand – und kommt rüber: „Wissen Sie, wie das hier geht?“ Da die eigene Wäsche ohnehin noch ein Weilchen braucht, ist das eine nette Abwechslung. Also bekommt sie es erklärt.
Nichts geht hier ohne die Waschsalon-eigene Chipkarte. Wer noch keine hat, kriegt sie für ein Euro Pfand am Automaten. Dort kann man sie auch gleich aufladen, passendes Kleingeld ist nicht unbedingt erforderlich, der Automat nimmt auch Scheine. Dann wird die Waschmaschine gefüllt, Waschmittel dazu, Karte reinstecken, Programm wählen, Karte rausziehen, Start drücken, fertig. Das ist ganz einfach, dennoch hat etwa die Hälfte der Leute, die hierher kommen, Probleme mit der Handhabung – und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht oder Nationalität. Der nach subjektiver Beobachtung häufigste Fehler: Viele realisieren nicht, dass ganz am Ende noch die Start-Taste gedrückt werden muss.
Auch der Umgang mit dem Internet ist immer noch für viele zu kompliziert, und es verwundert überhaupt nicht, dass sich scheinbar grandiose Erfindungen wie Espressomaschinen und Küchenherde mit USB-Anschluss, die sich ihre Rezepte ganz allein aus dem Netz holen, oder Kühlschränke mit Internetverbindung zum automatischen Nachbestellen von Milch und Käse bislang nicht durchsetzen konnten. Dennoch: Was technisch machbar ist, wird gemacht. Und zwar unabhängig davon, ob eine neue Erfindung überhaupt sinnvoll ist und ob ganz normale Leute damit auch umgehen können. Aber es geht nicht um Sinn oder Bedienbarkeit. Die Mobiltelefonie mit ihren Jamba-Klingeltönen ist der einzige Bereich, der in dieser Hinsicht noch schlimmer ist als jede skurrile Internet-Erfindung.
Dabei fing alles ganz harmlos an, und wenn schon die gesamte IT-Industrie mit Microsoft, Apple und wie sie alle heißen vor zehn Jahren in ihrer besten Goldgräberzeit nicht absehen konnten, wohin sich das alles mal entwickeln wird, konnten es die US-Militärs in den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts als die eigentlichen Erfinder des Internet erst recht nicht. Glaubt man der Legende, wollten sie im Kalten Krieg einfach ein Computernetzwerk, das vor feindlichen Angriffen sicher ist und selbst einen Atombombenangriff übersteht. Die später durch das Übertragungsprotokoll TCP/IP perfektionierte Fähigkeit, bei Ausfall eines Knotenrechners automatisch einen anderen Weg zu nehmen, machten das militärische Forschungsnetz Arpanet auch für zivile – zu jener Zeit noch ausschließlich wissenschaftliche – Zwecke interessant. Also wurde ein Netz geschaffen, das anfangs fünf Großrechner über Standleitungen verband. Schon bald schlossen sich immer mehr Universitäten mit eigenen Rechnern an. In Deutschland beteiligten sich zuerst die Universitäten Dortmund und Karlsruhe am neuen Netz. Und als die ersten Modems aufkamen, konnten sich Forschende, Lehrpersonal und Studenten von zu Hause aus mit dem Unirechner und von dort aus mit dem Rest der Welt verbinden. Die offenen Diskussionsgruppen im Usenet und der Internet Relay Chat (IRC) sind auch heute noch Ausdruck für die aktive Rolle der Studenten bei der Entwicklung des Internet.
Die Modems waren zu dieser Zeit noch extrem langsam. Sie schafften gerade mal 2.400 Bit pro Sekunde, mit den heutigen 56.000 bps-Modems oder gar DSL-Geschwindigkeiten ist das nicht vergleichbar. Aber das war nicht weiter tragisch, schließlich musste nichts weiter als reiner Text übertragen werden. Und kryptische Unix-Kommandos, weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund – das war nichts für ganz normale Anwender mit ihren IBM-PCs und Apple-Rechnern. So blieb das Internet jahrelang eine Sache von Wissenschaftlern und Studenten. Man war unter sich. Das änderte sich nahezu schlagartig mit der Erfindung des World Wide Web und der dazu gehörenden Hypertext Markup Language (HTML). Plötzlich waren grafisch gestaltete Internetseiten möglich, und die einzelnen Elemente einer Seite wie Bilder etc. konnten auf über die ganze Welt verstreuten Servern liegen. Der spätere Netscape-Gründer Marc Andreesen programmierte 1993 mit Studenten und Wissenschaftlern ein passendes Navigationsprogramm, den ersten grafikfähigen Browser. Sie nannten ihn Mosaic. Und als ein Jahr später die erste Netscape-Version erschien, wuchs des WWW in rasanter Geschwindigkeit zum populärsten Internet-Dienst heran und ermöglichte in bisher unvergleichlichem Ausmaß die Nutzung des Netzes für jeden, der über einen Computer und ein Modem verfügt. Plötzlich war alles clickable, die Handhabung wurde deutlich einfacher und niemand musste mehr komplizierte Kommandos erlernen. Gleichzeitig wurden die Modems deutlich schneller.
1995 war dann das Jahr, in dem sich das Internet endgültig für alle öffnete. Das ist kein auf den Tag fixiertes Jubiläum: Vor ziemlich genau zehn Jahren kamen einfach ein paar Dinge zusammen, die insgesamt bewirkten, dass das Netz nicht mehr nur von den „Early Adoptors“ genutzt wurde, sondern sich auch hierzulande zum echten Massenmedium entwickelte: Die US-Onlinedienste AOL und CompuServe boten ihren Kunden neben ihren eigenen Diensten erstmals direkten Zugang zum Internet an. In Deutschland machten die ersten Internet-Provider preiswerte Angebote, und aus BTX, dem Bildschirmtext der alten Bundespost, wurde T-Online mit direktem Internetzugang. In Kalifornien entstanden mit Yahoo und Altavista die ersten Suchmaschinen.
Im gleichen Jahr kam Windows 95 auf den Markt. Von Internet keine Spur: Bill Gates wollte sein neues Microsoft Network (MSN) als weiteren hausgemachten Onlinedienst auf den Markt drücken. Das floppte fürchterlich, und so konnte sich Netscape ungestört auch auf Windows-Systemen verbreiten. Erst als sich Microsoft ein Jahr später mit dem Internet Explorer ein riesiges Stück vom Internetkuchen holen wollte und deshalb einen langen und aggressiven Browserkrieg anzettelte, wurde der Gates-Browser zum Standard auf Windows-PCs. Richtig in das System integriert wurde das Internet erst mit der zweiten Ausgabe von Windows 98.
Den Usern war das egal: Hauptsache, es funktioniert! Die hässlichen Faxgeräte aus dem letzten Jahrzehnt wurden weitgehend abgeschafft und durch E-Mail ersetzt. Die Musikfans saugten MP3s über Napster – bis die Musikindustrie die Tauschbörsen gerichtlich verbieten ließ. Doch längst sind neue aufgetaucht, und da gibt es neben Musik auch die neuesten Filme in annehmbarer Qualität. Die News-Junkies sind schneller informiert als jeder Radiosender, und die Blogger bloggen sich die Seele aus dem Leib. Die Raubkopierer holen sich stets die neueste Software von dubiosen Servern, und die Viren-Freaks verseuchen das Netz mit immer neuen Würmern und Schädlingen.
Alle Vorurteile bestätigt? Das Internet war von Anfang an ein Spiegel der Gesellschaft mit all ihren schönen und hässlichen Facetten. Und je mehr Leute sich ins Netz begeben, um so höher wird auch das Grundrauschen, also der Anteil völlig belangloser, schlechter oder gar krimineller Webseiten. Damit war zu rechnen. Aber wie geht es weiter? Was die nächsten zehn Jahre bringen, kann heute niemand vorhersagen. Die Dotcom-Krise vor einigen Jahren hat viele von denen, die mit eher unnützen Ideen und Projekten Geld verdienen wollten, hinweggefegt, das hat dem Netz sehr gut getan. Die Telekom beginnt im nächsten Jahr mit dem Aufbau eines 50-Megabit-Netzes – das ist ausreichend für die Übertragung von hochauflösendem Fernsehen, und vermutlich werden bald TV und PC zu Infotainment-Centern zusammenwachsen. Die Nutzung von Medien aller Art hat sich laut einer Studie im Auftrag von ARD und ZDF in den letzten fünf Jahren ohnehin verdreifacht, und AOL, Yahoo und Google haben bereits TV-Sender gegründet, deren Programm nur übers Internet zu sehen sein soll.
Vielleicht sollte man das Ganze wenigstens diesmal ein wenig benutzerfreundlicher gestalten: Als ein als notorischer Internetverweigerer bekannter Kollege sich dennoch überzeugen ließ, ein Modem für seinen PC anschaffte und dafür eine zweistündige Einführung erhielt, fragte er am Ende: „Und wie komme ich hier wieder raus?“