: „Eine Frage des Überlebens“
Der französisch-marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun über ein verlassenes Afrika, die nicht existente Entwicklungspolitik der Europäer und was das alles mit den Toten am Grenzzaun von Ceuta zu tun hat
taz: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder vom Zaun in Ceuta sehen?
Tahar Ben Jelloun: Das sind furchtbare Bilder. Aber sie überraschen mich nicht. Sie sind das Resultat einer Situation, die seit langem existiert. Schon vor dreizehn Jahren habe ich einen Artikel für Le Monde geschrieben, der den Titel trug: „Afrikanische Schatten in Tanger“. Die Afrikaner im Hafen von Tanger wollten über die Meerenge. Die Leute sagten von ihnen: „Sie essen Katzen“, weil sie nichts zu essen hatten. In Tanger gibt es heute eine diskrete Koexistenz zwischen Afrikanern und Marokkanern. Die Afrikaner stehlen nicht. Sie dringen in kein Haus ein. Sie tun niemandem etwas Böses. Tanger ist für sie ein Durchgangsort.
Viele afrikanische Migranten am Zaun berichten von Diskriminierung, der sie unterwegs ausgesetzt waren.
Ich habe nie von Gewalt der marokkanischen Bevölkerung gegen die Afrikaner gehört. Aber niemand mag die Armen.
Warum nicht?
Sie markieren die Grenze des menschlichen Lebens. Gott liebt die Armen nicht. Entweder man hat ein sehr großes Herz und holt sie zu sich herein. Oder man ruft, wie jetzt, die Polizei. Das ist Rassismus gegen Arme. Europa ist reich genug, um sie zu empfangen und ihnen Arbeit zu geben.
Won welcher Seite kommt die Gewalt, mit der die afrikanischen Migranten zurückgedrängt werden?
Die Gewalt kommt von der Polizei. Der spanischen und der marokkanischen. Dass es Tote gibt, ist unerträglich.
Was hat zu dieser Eskalation geführt?
Afrika ist von allen verlassen worden. Außer Südafrika sind alle anderen Länder des Kontinents Diktaturen oder abhängig von europäischen Ländern wie Frankreich oder Belgien oder England. Es sind Länder, die man sterben ließ, nachdem man sie ausgebeutet hat. Das ist eine westliche Politik des Zynismus und Egoismus. Dass jetzt Afrikaner in der Wüste leiden, ist eine der Konsequenzen dieser Politik.
Kolonialismus und Sklaverei sind verantwortlich für die Szenen am Zaun?
Weniger die Sklaverei als die Art, illegitime Staatschefs in Afrika zu installieren, weil sie europäischen Interessen dienen, und zugleich das Volk im Elend zu lassen. Denken Sie an Mobutu in Zaire, Omar Bongo im Gabun und natürlich Nigeria, ein Land, in dem der Staat völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist. In Afrika herrscht nicht Recht und Demokratie, sondern institutionelle Unordnung. Diese Menschen am Zaun – Männer, sogar schwangere Frauen – sind ausgebeutet worden. Erst von ihren Ländern und dann von mafiösen Schleppern. Dann sind sie da und es passiert etwas Schreckliches: Sie haben nichts zu verlieren.
Und rennen gegen den Zaun.
Sie wollen eine sechs Meter hohe Barriere, die mit Stacheldraht endet, erzwingen. Sie können sich vorstellen, dass sie verletzt werden. Aber wohl nicht, dass sie getötet werden.
Warum gehen die Europäer nicht souveräner mit Einwanderung um?
Im Augenblick hat kein europäisches Land eine echte Einwanderungspolitik. Bisher improvisieren die Regierungen in Europa nur. Sie basteln. Unter einer Einwanderungspolitik verstehe ich, dass die Wirtschaftswissenschaftler uns sagen, wir brauchen so und so viele Millionen Arbeiter, damit das Haus Europa funktioniert.
Sie wollen Quoten?
Nicht unbedingt. Aber ich glaube, nur wenn man einen Rahmen steckt, kann man die versteckte Einwanderung beenden. Man muss feststellen, welche Arbeitskräfte Europa braucht, und jenen Länder beistehen, die am dringendsten Hilfe benötigen. Aber gegenwärtig ist die Politik der EU viel stärker nach Osten als in den Süden orientiert.
Ist die Osterweiterung der EU ein Fehler?
Das ist eine Entscheidung. In dem Moment, wo europäische Länder der EU beitreten, bekommen die Menschen dort Hilfe sowie das Recht, in der EU zu arbeiten. Marokko und Afrika haben überhaupt keine Chance, in die EU zu kommen.
Soll die EU mit den undemokratischen Herrschern verhandeln, aus denen die afrikanischen Migranten fliehen?
Man kann nicht gleichzeitig die Diktaturen loswerden und das Problem der Immigration lösen. Es muss verhandelt werden. Und es muss in den Herkunftsländern der Afrikaner investiert werden.
Den jungen Afrikanern hilft das nicht. Sie wollen jetzt nach Europa, jetzt arbeiten.
Es gibt keine Wunderlösung.
Warum passiert das alles jetzt?
Es gibt eine Wut. Eine Ungeduld. Eine Verschlimmerung. Wir sind sehr schnell zu einem sehr großen Ungleichgewicht gekommen zwischen dem Lebensniveau in Europa, das hoch ist, und einem sehr niedrigen Überlebensniveau im Süden. Es wird immer mehr Arme geben, immer weniger Arbeit und immer mehr selbstmörderische Akte, wie wir sie jetzt in Ceuta sehen.
Wie gehen Sie als Schriftsteller damit um?
Ich habe einen Roman geschrieben, der im Januar in Frankreich erscheint. „Partir“ – Weggehen – handelt von jungen Marokkanern, die auf jeden Fall nach Europa wollen. In ihrem Fall in pateras – Booten.
Schaffen sie es in Ihrem Roman nach Europa?
Manche ja. Aber sie enden übel. Ich erteile keine Moral-Lektion. Aber ich sage ihnen, Europa hat euch nicht eingeladen. Man kann offene Türen nicht erzwingen. Aber für die Afrikaner ist das eine Überlebensfrage: Rüberkommen oder sterben. In ihrer Situation geht es nicht um Höflichkeit.
INTERVIEW: DOROTHEA HAHN