piwik no script img

Mit einem Finger auf den Everest

Bergauf Fünfmal versuchte der japanische Bergsteiger Nobukazu Kuriki den Mount Everest besteigen. Doch er scheiterte. Nun wagt er es erneut

von Felix Lee

Noch sitzt Nobukazu Kuriki entspannt an einem Kaffeetisch in einer Tokioter Bürowohnung. Ein paar Wochen habe er ja noch, sagt er und nippt an einer Wasserflasche. Aber ja, seine Nervosität steige von Tag zu Tag. Beim inzwischen sechsten Versuch sogar deutlich mehr, gibt er zu und fasst sich in seine stylisch zerzausten Haare. Schließlich sei er ja nicht lebensmüde.

Ende des Monats ist es wieder so weit. Dann will es der 34-jährige Japaner ein weiteres Mal wissen. Gelingt es ihm, den Mount Everest zu besteigen, den mit 8.848 Metern höchsten Berg der Welt? Das haben über zehntausend Menschen vor ihm zwar auch schon geschafft, doch er will ohne Sherpas auskommen, nepalesische Bergführer, die bereits Anfang März ins Basislager aufsteigen.

Diese Helfer haben ganze Yak-Ladungen mit Material dabei, um ihren Kunden jede nur erdenkliche Annehmlichkeit zu bieten. Eine ganze Zeltstadt bauen sie auf für mehr als 1.000 Menschen. Denn so viele Bergsteiger werden pro Saison erwartet. Und mehr noch: Die gesamte Strecke entlang zum Gipfel hinauf verlegen sie Seile, bringen Leitern an und deponieren Sauerstoffflaschen. Trotz des hohen Aufwands lohnt sich für die Sherpas das Geschäft: Zwischen 40.000 und 80.000 Euro kostet ein Aufstieg pro Person.

Die Todeszone

Kuriki will ohne diesen ganzen Firlefanz auskommen. Daher hat er für seinen Aufstieg die Herbstsaison gewählt. Dann werden die Tage kürzer und ab 8.000 Höhenmetern besonders windig und eisig. Die Lebenschancen in dieser „Todeszone“ liegen dann in der Regel bei unter 48 Stunden. Das heißt: Kuriki muss innerhalb von zwei Tagen den Gipfel erreicht haben und wieder runter, auf 8.000 Höhenmeter gekommen sein.

Diese zusätzlichen Strapazen nehme er auf sich, um den Menschenmassen zu entfliehen, die im Frühjahr den Berg erklimmen. Er habe bei einem seiner vergangenen Versuche am Basislager schon im Stau gestanden. „Mehr als drei Stunden habe ich warten müssen, bis ich loskam“, erzählt er. Im September und Oktober sei es sehr viel stiller. Kuriki will zudem ohne künstlichen Sauerstoff auskommen. „Das ist die reinste Form des Bergsteigens.“

Und: Kuriki will all das mit nur einem Finger schaffen, genau genommen mit seinem rechten Daumen. Alle anderen neun Finger mussten ihm 2012 amputiert werden, nachdem sie bei einem seiner Versuche am Everest erfroren waren. „Auf einer Höhe von rund 7.000 Metern war das“, erinnert er sich. Er habe sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gespürt. Sherpas, die ihn von weiter unten beobachteten, hatten gesehen, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Sie retteten ihn. „Wenn ich nur ein Stück weiter oben gewesen wäre, hätte keiner mir helfen können“, sagt Kuriki. Nur einem Menschen ist bisher der Aufstieg unter ähnlich schweren Bedingungen gelungen: Reinhold Messner. Das war 1980. Messner hatte zuvor drei Fingerkuppen verloren.

Ansporn

Die Leidenschaft für diese extreme Form des Bergsteigens entdeckte Kuriki im Studentenalter. Zusammen mit einem Freund wollte er die schneebedeckten und menschenleeren Berge von Hokkaido, Japans Nordinsel, erklimmen „Wir hatten keinen Mobilfunkempfang, der Schnee war tief“, erinnert er sich. Erst dachten sie, das sei unmöglich. Doch ehe sie sich versahen, hatten sie ihr Ziel nach einer Woche erreicht. „Ich hatte das geschafft, wovon ich gedacht hatte, ich kann es nicht“, sagt Kuriki. Das spornte ihn an, höhere Gipfel zu besteigen. Sein derzeitiges Ziel: Er will alle Gipfel des Himalajas über 8.000 Meter solo und ohne Sauerstoffflasche besteigen. Der Everest fehlt ihm noch.

Im vergangenen Jahr war Kuriki der große Hoffnungsträger von Nepals angeschlagener Tourismusindustrie. Im April 2015 hatte gleich zu Beginn der Frühjahrssaison ein Erdbeben der Stärke 7,8 den Himalaya erschüttert. Mehr als 9.000 Menschen starben. Die chinesischen Behörden ließen ihren Teil des Bergs komplett absperren. Auf der nepalesischen Seite riss im Zuge des Bebens eine Lawine große Teile des Basislagers fort, 18 Menschen kamen dabei ums Leben. Auch hier mussten sämtliche Expeditionen abgesagt werden.

Die nepalesische Regierung beauftragte Kuriki im vergangenen Herbst, als Erster nach dem Beben den Everest wieder zu besteigen. Mit dieser spektakulären Werbeaktion – ohne Sauerstoffflasche und mit nur einem Daumen – sollte er den Bergtourismus wieder ankurbeln. Er ist mit Abstand die wichtigste Einnahmequelle des ansonsten völlig verarmten Landes.

Wie ein alter Mann

Doch Kuriki scheiterte. Bei etwa 8.150 Höhenmetern sah er sich zum Abbruch gezwungen. Sein Körper sei völlig erledigt, ihm sei übel und er habe Schwindelgefühle, schrieb er damals in seinem Blog, den er während seiner Tour regelmäßig bestückte und dem weltweit Zehntausende folgten. „Ich bewege mich wie ein alter Mann“, postete er. Nun will er sich denselben Qualen erneut aussetzen. Ist er leichtsinnig? Besessen? Vielleicht doch lebensmüde? Ein Kamikaze gar?

„Nein“, antwortet er. Das Leben sei ihm sogar sehr wichtig. Daher bereite er sich intensiv auf den Aufstieg vor, trainiere hart. Er begebe sich rechtzeitig ins Basislager und mache Probeaufstiege, um sich an die dünne Luft zu gewöhnen. „Es gibt Grenzen, an denen der Körper nicht mehr mitmacht“, sagt Kuriki. Der Reiz fange aber dann an, wenn wir über die selbst empfundenen Grenzen hinausgehen. „Die gilt es herauszufinden.“ Und ja, sicherlich kalkuliere er ein, nicht heil oder gar nicht mehr zurückzukehren.

Doch das wolle er vermeiden. Er halte sich an sein Vorbild Reinhold Messner, der immer wieder beschwor, dass der Abbruch fest eingeplant werden müsse. „Erst die Fähigkeit zur Umkehr selbst kurz vor dem Gipfel sichert das Leben“, sagt Kuriki. Das unterscheide Profibergsteiger von Amateuren.

„Erst die Fähigkeit zur Umkehr selbst kurz vor dem Gipfel sichert das Leben. Das unterscheidet Profibergsteiger von Amateuren“Nobukazu Kuriki, Bergsteiger

Angst vor dem Tod hat er aber nicht. „Jeder trägt den Tod in sich“, sagt er. Ob man ihn empfinde oder nicht – das unterscheide die Menschen. Erst die Konfrontation mit dem Tod habe ihm bewusst gemacht, wie wichtig ihm das Leben ist. Und Kuriki ist sich sicher: Wenn der Aufstieg des Everest leicht wäre, dann würden ihn nicht so viele Menschen erklimmen wollen.

Kuriki ist unverheiratet, eigene Kinder hat er nicht. Seine Mutter starb, als er 17 Jahre alt war. Sein Vater unterstützt ihn. Er hat ihn geradezu zu dieser waghalsigen Leidenschaft ermutigt.

Als Kuriki den über 7.000 Meter hohen Mount McKinley in Alaska allein besteigen wollte, rieten seine Freunde ihm davon ab: „Bis du wahnsinnig? Das ist doch viel zu gefährlich.“ Nur sein Vater sprach ihm Mut zu. „Wenn er gesagt hätte: ‚Du kannst das nicht, komm zurück‘, dann hätte ich vermutlich aufgegeben. Dass ich bis heute durchgehalten habe, liegt daran, dass mein Vater an mich glaubt.“

Noch sitzt Kuriki im Büro seiner Agentur, im elften Stock eines Tokioter Hochhauses, mitten im noblen Viertel Ginza. Die Agentur vermarktet seine Werke. Und das mit Erfolg. Ihm ist es gelungen, mit seiner Leidenschaft Geld zu verdienen. Mehrere Bücher hat er schon geschrieben. Sie tragen Titel wie „Den Mut haben zum nächsten Schritt“ oder „No Limits“. Über 180.000 Exemplare hat er schon verkauft. Zudem hält er regelmäßig Vorträge, gibt für Manager von großen Firmen Moti­vationskurse. Und als Werbeträger kann man ihn auch engagieren.

2015 schaffte es niemand auf den Gipfel. Das gab es seit mehr als 40 Jahren nicht. Doch schon die Frühjahrssaison 2016 zog Tausende zur Everest-Basisstation. Und mehr als 450 Bergsteiger schafften bis Ende Mai den Aufstieg auch. Mindestens fünf Menschen ließen ihr Leben, darunter die Australierin Maria Strydom. Sie hatte zusammen mit ihrem Mann beweisen wollen, dass sie auch als Veganer diese Expedition schaffen würden.

Sie hatte den Gipfel bereits erreicht, erlag aber beim Abstieg der Höhenkrankheit. Statistisch gibt es einen Toten auf 25 erfolgreiche Besteigungen. Was Kuriki von solchen Vorhaben halte? „Ich finde es gut, wenn Menschen konkrete Ziele haben und ihnen nachgehen“, antwortet er. Dazu gehöre auch das Erklimmen des Everest. „Doch eine intensive Vorbereitung gehört schon dazu.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen