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Archiv-Artikel

Aufzuweichende Vorurteile

STADTPLANUNG Im Postamt 5, dem neuen Domizil der Bremer Architekturstudenten, sind zwei erhellende Ausstellungen über den Städtebau der Nachkriegszeit zu sehen

Bis Mitte der 60er glaubten die Bremer Planer an den Bau einer U-Bahn – um dann noch eine Weile von einer Magnet-Schwebebahn zu träumen

Von Henning Bleyl

Der Städtebau der 50er bis 70er Jahre gilt heutzutage Vielen als Negativbeispiel für Betonwüsten und ent-individualisierte Lebensformen. Mit einer groß angelegten Wanderausstellung will der Bund Deutscher Architekten (BDA) nun gegenhalten. Da in diesem Zusammenhang die Neue Vahr eine zentrale Rolle spielt, ist die Ausstellung derzeit im Postamt 5 zu sehen. Dort hat nun bis auf weiteres die „School of Architecture“, wie sich der entsprechende Fachbereich der Bremer Hochschule seit ein paar Jahren nennt, ihren Sitz.

Die Ausstellung solle „weit verbreitete Vorurteile aufweichen“, sagt Eberhard Syring, Professor an der School of Architecture und Leiter des Bremer Zentrums für Baukultur. Man nehme also zur Kenntnis: Von den 8.000 heutigen Gewoba-Wohnungen in der Neuen Vahr stehen aktuell gerade mal 67 leer. Die Ausstellungsmacher kommentieren das so: „Betrachtet man das Höllentempo ihrer Entstehung und die gewaltigen Ausmaße der Neuen Vahr, dann kann die Vahrer Zufriedenheit als stilles Spektakel bezeichnet werden.“

44 Prozent der heutigen „Vahraonen“ haben einen Migrationshintergrund, über die Hälfte davon sind Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Das findet seinen Ausdruck auch in der Erfolgsgeschichte des „Schach-Club Vahr“: Dank der spielstarken EX-SUler gelang ihm der Aufstieg in die Verbandsliga Nord.

Seinerzeit gab es noch ganz andere Erfolgsgeschichten: Bereits ein Jahr vor der offiziellen Fertigstellung 1961 wohnten 15.000 Menschen in der Neuen Vahr. Das sei jedoch kein „Bekenntnis zur modernen Stadt“ gewesen, schreibt der Berliner Architektur-Journalist Florian Heilmeyer lakonisch, „sondern vielmehr eine Folge der Wohnungsnot“. Nach Kriegsende galten 62 Prozent der Bremer Gebäude und rund 60.000 Wohnungen in der Innenstadt als zerstört. Bürgermeister Kaisens Parole „Erst der Hafen, dann die Stadt“ führte dazu, dass auch Mitte der 50er Jahre noch etwa 100.000 Wohnungen fehlten.

Wie also könnte man den damaligen Akteuren die Bauwut verübeln? Die Neue Vahr wurde 1956 zur größten Baustelle der Bundesrepublik – und zugleich zum Gegenmodell des sozialdemokratischen Bremen zur CDU-geführten Bundesregierung in Sachen Wohnungsbau. Adenauer setzte auf privates Wohneigentum.

Aus heutiger Sicht besteht die Qualität der Neuen Vahr in der Konsequenz ihrer Prototypität. Nirgends sonst wurde die „moderne“, funktionsgeteilte Stadt derart umfassend durchdekliniert wie auf den weiten Ackerflächen im Bremer Osten. Die „offene durchgrünte Stadtlandschaft“ fand unter anderem in Max Säume, Karl-August Orf und Hans-Bernhard Reichow ein hochproduktives Planungsteam. Wobei Reichow auch so einschlägige Werke wie „Die autogerechte Stadt“ veröffentlichte, mit dem er das entsprechende stadtplanerische Leitbild popularisierte. Die Neue Vahr wurde trotzdem keinerwegs eine Autowüste.

Andererseits gab es hier – obwohl ursprünglich eingeplant – kaum kulturelle Angebote. Und die Wege in die Innenstadt gestalteten sich schwierig, wenn man auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war: Da die Planer bis Mitte der 60er Jahre an den Bau einer Bremer U-Bahn glaubten – und dann noch eine Weile von einer Magnet-Schwebebahn träumten – verzögerte sich die Anbindung der Neuen Vahr ans bestehende Straßenbahn-Netz erheblich.

Doch die „Vahraonen“, wie sich die Siedlungsbewohner als Zeichen einer bemerkenswert schnellen Selbstidentifizierung bald nannten, zeigten Widerstandsgeist: Als sie 1968 die ersten Schienen endlich vor ihrer Haustür hatten, blockierten sie angesichts einer angekündigten Fahrpreiserhöhung prompt die Gleise – noch vor den legendären Bremer Schülern.

Die Krux der Planung, das arbeiten Ausstellung und Begleitkatalog klar heraus, blieb die fehlende Attraktivität des Quartiers für Jugendliche und junge Erwachsene. Während Kinder in den weitläufigen Grünanlagen zwischen den Blöcken ein nahezu ideales Terrain fanden, gab und gibt es für die Älteren zu wenig Angebote. Heute liegt der Altersdurchschnitt in der Neuen Vahr, die nach ihrer Gründung rasch zu Bremens kinderreichstem Viertel wurde, bei 45,4 Jahren.

Um solche statistischen Angaben konkret zu hinter leuchten, haben Studierende der „School of Architecture“ Siedlungsbewohner interviewt und deren Lebensumstände fotografisch porträtiert. Die Ergebnisse, die ein einigermaßen heterogenes Bild zeichnen, sind in der Begleitausstellung „Ich lebe hier“ zu sehen.

Dabei haben sich die Studierenden verdienstvollerweise nicht auf die neue Vahr beschränkt, sondern sich auch zehn weiteren Bremer Siedlungen zugewandt. Etwa dem heute nach wie vor beliebten Kurfürstenviertel, Neuschachhausen und Kattenturm. Die Unterschiede sind augenfällig: Während in den 50ern, am stärksten in der „Gartenstadt Vahr“ ausgeprägt, das Prinzip der gegliederten und aufgelockerten Stadt dominierte, setzte bereits in den 60en der Trend zur Verdichtung ein – bis in den 80ern dann das Modell des Siedlungsbaus für obsolet erklärt wurde zu Gunsten der „europäischen Stadt“ mit ihre Blockrandbebauung.

Der neue Gewoba-Chef Peter Stubbe liebt seine Siedlungen – schon wegen der viel einfacheren energetischen Sanierbarkeit der Blocks im Vergleich zu Einfamilienhäusern. Im übrigen verhalte es sich bei den Siedlungen wie mit der Eisenbahn: „Bei Nutzern schneiden sie immer besser ab als bei Nicht-Nutzern.“

„In der Zukunft leben“ und „Ich lebe hier“: Bis zum 1. Februar im Postamt 5