: Richterin ohne Robe
EHRENAMT Als Schöffin spricht Silvia Thomsen Recht, Jura hat sie nie studiert. Bei ihren Urteilen zählen Lebenserfahrung und Gefühl
■ Etwa 61.000 ehrenamtliche Richterinnen und Richter gibt es in ganz Deutschland. Alle fünf Jahre finden bundesweit zeitgleich Schöffenwahlen statt.
■ Die nächsten Schöffen werden Anfang 2013 für die Amtszeit 2014 bis 2018 gewählt.
■ Bewerben kann sich jeder interessierte Bürger, der älter als 25 und jünger als 69 Jahre alt ist, bei seiner Gemeindeverwaltung. Ausschlusskriterien können etwa Vorstrafen sein.
■ Über Jugendliche dürfen nur so genannte Jugendschöffen urteilen. Bewerbungen für dieses Amt können bei den Jugendämtern eingereicht werden. An den Arbeitsgerichten können nur Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter Schöffe werden.
■ Weitere Informationen: www.schoeffenwahl.de
VON ALICE WINKLER
Manchmal kommt Silvia Thomsen ihre Arbeit im Gerichtssaal vor wie ein Krimi, den sie sich im Fernsehen anguckt. Aussagen und Beweise setzen sich für die gelernte Erzieherin wie ein Puzzle zusammen. Sind alle Teile vollständig, fällt sie ihr Urteil.
Die 37-jährige Thomsen ist Schöffin. Ehrenamtliche Richterinnen und Richter wie sie sprechen Recht, ohne juristische Vorkenntnisse zu haben. Im Landgericht Itzehoe urteilt Thomsen meist mit einem weiteren Schöffen und einem Berufsrichter über Straftaten Jugendlicher und junger Erwachsener. Ihr letztes Urteil: fünf Jahre Haft wegen räuberischer Erpressung. Ein junger Mann. „Er saß mir gegenüber“, sagt Thomsen. „Seine Augen, als er den Antrag der Staatsanwaltschaft hörte, werde ich nie vergessen. Da flammt schon mal so etwas wie Mitleid auf.“
Mit den Schöffen halten Emotionen Einzug in den Gerichtssaal. Ihre Entscheidungen beruhen allein auf ihrer Lebenserfahrung – für die juristische Kompetenz ist der Berufsrichter zuständig. Doch zählt die Stimme der Laienrichter ebenso wie die der Berufsrichter, das Urteil fällt mit Zweidrittelmehrheit: Zwei Schöffen können also den Profi überstimmen. „Bei uns ist das allerdings noch nicht vorgekommen“, sagt Thomsen.
Zu ihrer Schöffentätigkeit kam die Schleswig-Holsteinerin vor vier Jahren über eine Nachbarin, die das Ehrenamt früher ausübte. Sie machte Thomsen auf die Schöffen-Wahl (siehe Kasten) aufmerksam. „Wir haben oft über ihre Fälle gesprochen – über die Menschen, die hinter solchen Taten stehen“, sagt Thomsen. „Mich hat das sehr fasziniert.“
Nun sitzt sie meist einmal im Monat im Gerichtssaal. Sind für eine Verhandlung mehrere Tage angesetzt, auch mal häufiger. Schöffen erhalten vorab keine Informationen über den Fall, der sie erwartet. Sie sollen vorurteilsfrei und unvoreingenommen an die Verhandlung herangehen. Dennoch seien juristisch korrekte Entscheidungen „für den Laien oft nicht nachzuvollziehen“, sagt Thomsen.
Sie spricht über ihren bislang aufwühlendsten Fall, der sie fast ein Jahr lang begleitet hat und auch für mediales Echo sorgte. Damals waren Vater und Sohn angeklagt gewesen, Töchter und Schwestern über Jahre sexuell missbraucht zu haben. Dafür hatte das Landgericht den Vater zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt, der 18 Jahre alte Sohn bekam zwei Jahre Bewährung. Wenn man von so einer Sache erfährt, denkt man im ersten Moment: „Lebenslänglich wegsperren – gar keine Frage“, sagt Thomsen. Aber so einfach laufe das nun mal nicht.
Einen solchen Fall könne man nicht vergessen. Sie hat ihn mit nach Hause genommen und nachts davon geträumt. „Immer und immer wieder lässt man Zeugenaussagen, Beweismittel und Sachverständigengutachten Revue passieren“, sagt Thomsen. Das könne und solle man auch nicht ablegen. „Der Richter hat seine Paragraphen und wir haben unsere Emotionen.“
Der Alltag bedeutet für Thomsen auch das Leben mit einem schwerbehinderten Kind. Sie betreut ihren zwölfjährigen Sohn zu Hause. Während ihrer monatlichen Einsätze beim Landgericht kann sie die Sorgen um ihren Sohn für einen kurzen Moment vergessen. „Da darf man mit seinen Gedanken nicht abschweifen, da muss man immer voll bei der Sache sein“, sagt sie.
Silvia Thomsens Amtszeit als Schöffin neigt sich dem Ende zu. Ob sie sich dieser Wahl erneut stellen wird, weiß sie noch nicht. An manchen Tagen, sagt sie, würde sie am liebsten jeden Tag im Landgericht verhandeln. An anderen Tagen hadere sie mit den getroffenen Entscheidungen. „Mit dem gleichen Stimmrecht geht ja leider auch die gleiche Verantwortung einher.“