: Das Heer der Überflüssigen
betr.: „Tausche Geld gegen Zeit“ (Abbau der Arbeitslosigkeit durch weniger Überstunden und niedrigere Lohnnebenkosten) von Lars Riebold, taz vom 11. 10. 05
Wer erst nach 160 erfolglosen Bewerbungen und allen möglichen Anstrengungen merkt, dass ihn die Realität des absurden Theaters unseres ach so unproduktiv produktiven Landes eingeholt hat, dem ist fast nicht mehr zu helfen! Mein Erstaunen über das Nichterscheinen der Personalchefs hielt sich wirklich in Grenzen – im Gegensatz zur Enttäuschung der so motivierten Messe-Jobber. Hat Monsieur denn noch nicht mitbekommen, dass er sich nun in das Heer der Überflüssigen eingereiht hat – des toten Humankapitals? Es ist schon klar, dass der diplomierte Blick aus dem Boot auf die ertrinkenden Nichtakademiker vergnüglicher ist, als selbst dazuzugehören. Allerdings bleibt mir auch nach Lektüre des Artikel weiterhin verschlossen, was denn nun so schade daran sein soll, nun auch mal ein paar Akademikern dabei zuzuschauen. Akademisch per se ist nun wahrlich kein Werteprädikat!
Die Umverteilung von Arbeitszeit wäre politisch schon längst geboten – wird aber nicht funktionieren, solange wir nicht doch bei einem Umdenken der „Ackermänner“ ansetzen! Um mal wieder mit ’nem weiteren Beispiel aus der Praxis zu kommen: Die ProjektleiterInnen eines Marktforschungsinstituts müssen mindestens eine Million Euro pro Jahr für ihr Unternehmen einfahren – sonst sind sie die längste Zeit Projektleiter gewesen! Dafür brauchen sie viele Kunden und viele Studien – die viel Zeit erfordern! Da kommt man mit den vertraglich vereinbarten 40 Wochenstunden wirklich nicht aus; und siehe da, im Nu – und der Realität! – sind 60 Wochenstunden draus geworden! Wenn also zwei Projektleiter jeweils 20 Stunden abgeben würden (+ die dazugehörigen Kunden), wäre schon Bedarf für einen Dritten da. Problem: Die Erfolgserwartung an den einzelnen Projektleiter ließe sich nicht mehr durchsetzen, am Umsatz des Unternehmens würde sich nichts ändern, und es hätte erhöhte Kosten. Also, Herr Magister, wird sich eine freiwillige Vereinbarung in diesem Unternehmen, das ja gerade „bestens“ funktioniert, durchsetzen lassen? (Gibt nur „Ja“ oder „Nein“ zum Ankreuzen – Zusätze mit „wenn“ und „aber“ verbuchen wir schlicht unter unwirtschaftlich!) Und wer ein kürzeres Gedächtnis und politisch/gesellschaftlich gemachte Erfahrungen der letzten Jahre schon wieder vergessen hat: Vielleicht verdeutlicht dieses, zugegeben etwas arg praxisnahe Beispiel, wie es um „freiwillige Selbstverpflichtungen“ in der freien Wirtschaft steht. In eben diesem Unternehmen gab es vor einem Dreivierteljahr eine Neuregelung der Abgeltung eben dieser Überstunden: Da die „verlängerte“ Arbeitszeit (vertraglich nicht abgegolten!) mittlerweile in der Branche (national und auf europäischer Ebene) Usus sei, wird die Überstunde unter der Woche nur noch mit maximal 25 Prozent Freizeitausgleich abgegolten – allein die Überstunde am Wochenende kann zu 100 Prozent in Freizeit umgesetzt werden – vorausgesetzt, die Auftragslage lässt es zu! (Im selben Meeting dieses qualitativen Marktforschungsunternehmen übrigens wurde bemängelt, man verplempere zu viel Zeit mit dem einzelnen Kunden! Unproduktiv, unproduktiv, unproduktiv! Ziel eines jeden Projektleiters sei die Eine-Million-Umsatzmarke am Ende des Jahres!) Also noch ’ne Frage an den Herrn Geisteswissenschaftler: Wären Sie also auch bereit, für nur ein Viertel des Einkommens zu arbeiten? Dann ließe sich, denke ich – nein, da bin ich mir sicher! –, der Geld-gegen-Zeit-Tausch doch noch realisieren. Vielleicht geben Sie dies in Ihrer nächsten Bewerbung einfach mal unter „Gehaltsvorstellungen“ an – dann dürfte es das gewesen sein, mit der Arbeitslosigkeit! Keines der allgemein und bis zum Überdruss bekannten „erfolgreichen“ Reforminstrumente setzt hier an! Wer die Augen verschließt vor wirtschaftlichen Interessen und gesellschaftlichen Realitäten, darf sich nicht wundern, wenn er im Regen stehen gelassen wird! Das gilt so oder so! Wäre die Chance einer „neuen Linken“ nicht vielmehr eine „ganzheitliche“ Betrachtung dieses Dramas? Es wird Zeit, dass sich jemand um die Relationen zueinander und nicht immer bloß um Bruchstücke daraus kümmert!
TORSTEN SCHMIDT, Hamburg