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Archiv-Artikel

Letzter Ausweg Sterbehilfe

Das Recht auf einen Tod auf Wunsch birgt die Gefahr einer Entmündigung im Namen der Selbstbestimmung. Ohne menschenwürdige Pflege wird sich Euthanasie durchsetzen

Kann eine alternde Gesellschaft humane Pflege mit modernen Lebensbedingungen vereinbaren?

„Patientenautonomie am Lebensende“ und ein „Recht auf den eigenen Tod“ heißen die Formeln, mit denen nun auch von CDU-Politikern aktive Sterbehilfe eingefordert wird. Längst gilt in allen Lebensbereichen die Selbstbestimmung des Einzelnen als höchstes Gut. Warum sollte der Tod auf Wunsch daher nicht die einer modernen Gesellschaft gemäße Form des Sterbens bilden? Eine Bevölkerungsmehrheit erwartet, dass das Sterben selbstbestimmt erfolgt und professionell begleitet wird.

Doch Patientenautonomie und Selbstbestimmung bilden im Streit um die Euthanasie nur philosophische Feigenblätter: Weil aktive Sterbehilfe praktiziert werden soll, wo eigenes Handeln nicht mehr möglich ist, ist der Tod auf Verlangen notwendig auf Dritte angewiesen und damit stets (auch) fremd bestimmt. Und weil für einen auf der Fundamentalnorm der Menschenwürde fußenden Rechtsstaat die Lizenz zum Töten bei Sterbehilfe oder Todesstrafe mindestens eine Gratwanderung darstellt, ist aktive Sterbehilfe ohne umfangreiche bürokratische Kontrollen nicht vorstellbar.

Wer für den Tod auf Verlangen eintritt, fürchtet sich meist vor „qualvollem Leiden“ oder der „Apparatemedizin“. Dafür gibt es gute Gründe. Doch die Euthanasiebewegung, ursprünglich ein berechtigter Protest gegen die Allmacht der Medizin, verheddert sich in der Fallstricken des selbstbestimmten Sterbens unter fremder Kontrolle. Tatsächlich steigert sich die Macht des Medizinbetriebs und der Bürokratie noch, wenn sie buchstäblich über Leben und Tod entscheiden: Einerseits kommt es im Namen der Leidbeseitigung zu einem schleichenden Übergang vom Tod auf Verlangen zum Tod ohne Verlangen jener, die einen eigenen Willen nicht artikulieren können.

Um auf der anderen Seite dennoch am Ideal festhalten zu können, müssen Menschen etwa durch Patientenverfügungen frühzeitig zu einer Festlegung über ihr Lebensende gedrängt werden. Dies belegen die Erfahrungen in den Niederlanden: Dort liegt bei jedem fünften Sterbefall ein auf ein beschleunigtes Sterben zielendes oder dies in Kauf nehmendes Handeln Dritter zugrunde. Aber nur bei einem geringen Teil entspricht dies einem klar artikulierten Wunsch der Betroffenen. Bei 900 Patienten wurde in 2001 die Tötung sogar ohne Bitte der Betroffenen vorgenommen.

Das reale Sterben durch Giftinjektion oder Schierlingsbecher folgt nicht dem Ideal, weil die emphatische Betonung der Selbstbestimmung die Realität der letzten Lebensphase ignoriert: Moderne Medizin lässt die Menschen länger leben, aber auch länger sterben. Chronische Erkrankungen, Siechtum und Altersverwirrtheit prägen den letzten Lebensabschnitt. Selbstbestimmung ist vor diesem Hintergrund allenfalls näherungsweise zu erreichen. Wer auf Selbstbestimmung beim Sterben pocht, kann Patiententestamente und -betreuer, Verhandlungen von Ethikkommissionen und Vormundschaftsgerichten oder Computerprogramme zur Ermittlung der Restlebensqualität nicht ablehnen.

Mit solchen Als-ob-Lösungen verliert jedoch die authentische Erfahrung mit künstlicher Ernährung, anhaltender Hilflosigkeit und Schwäche an Bedeutung. Lange zuvor gebildete Vorstellungen und Ängste Dritter entscheiden. Sicher können Menschen im Angesicht von Verfall und Siechtum ihren Lebensmut verlieren und verzweifeln. Es ist aber auch ein Umgehenlernen möglich. Aktive Sterbehilfe schneidet Menschen von dieser Option ab: Wie in der modernen Medizin erst der Blick auf Blutdruck, Cholesterinspiegel und Messelektroden verrät, ob ich gesund bin oder mich nur so fühle, so wissen künftig die in Patiententestamenten vorab formulierten Alltagsvorstellungen mehr vom Kranken als er selbst – eine perfekte Entmündigung im Namen der Selbstbestimmung.

Freilich beantwortet sich die Frage nach der Sterbehilfe nicht durch den Disput um Selbstbestimmung contra Lebensschutz. Entschieden wird sie auf dem Feld der Sozialpolitik: Denn die Diskussion um aktive Sterbehilfe ist in ein gesellschaftliches Klima eingebettet, wo unsere alternde Gesellschaft in ihrer Mitte eine wachsende Zahl ohnmächtiger, altersschwacher und abhängiger Menschen „entdeckt“. Isolation, medikamentöse Ruhigstellung oder Zwangsernährung gehören in deutschen Pflegeheimen längst zur Tagesordnung. Mehrheitlich finden sich Menschen am Lebensende in Institutionen wieder, denen das Sterben fremd ist. Bei vielen Pflegebedürftigen dominiert die Sorge, anderen zur Last zu fallen und zum bloßen Objekt degradiert zu werden.

Hinzu tritt der demografische Wandel. Zwar werden der Anteil und die Anzahl der Pflegebedürftigen zunächst noch in moderater Weise zunehmen. Der im nächsten Jahr drohende Finanzierungskollaps der Pflegeversicherung kann großkoalitionär daher nach dem bekannten Muster der Teilprivatisierung hinausgezögert werden.

Medizinbetrieb und Bürokratie gewinnen an Macht, wenn sie über Leben und Tod entscheiden

Ab 2010 wird die Zunahme der Pflegebedürftigen aber den gewohnten Rahmen sprengen, zugleich werden Anteil und Anzahl der zu Hause Gepflegten stark rückläufig sein. Konzeption, Struktur und Finanzierung der Pflege und die Pflegeversicherung basieren jedoch auf kostengünstigen Hilfen durch Angehörige, die heute das Gros aller Pflegeleistungen übernehmen. Im Zangengriff von mehr Pflegebedürftigen und weniger Pflegenden und angesichts der Finanzierungsengpässe im Gesundheitswesen wird die Frage nach der Sterbehilfe eine neue Qualität erhalten: Gelingt es, in einer alternden Gesellschaft eine menschenwürdige Pflege mit modernen Lebensbedingungen zu vereinbaren? Oder sind Diskriminierung und Randständigkeit von Pflegebedürftigen und Pflegenden unabwendbar und die aktive Sterbehilfe dann zumindest eine Teilantwort auf den demografischen Wandel?

Aus der Zunahme der Anzahl und des Anteils chronisch kranker Hochbetagter folgt keinesfalls zwangsläufig, dass künftig gleich einer Naturkatastrophe Heerscharen Betagter nach aktiver Sterbehilfe verlangen.

Nur wenn die Befürchtung wächst, dass Pflegebedürftige und Pflegende an den Rand gedrängt werden, verwandelt sich die Angst vor Pflegebedürftigkeit in die Befürwortung der Euthanasie. Die Rahmenbedingungen in Gesundheitswesen und Pflege entscheiden somit über die aktive Sterbehilfe: Halten sie auch in einer alternden Gesellschaft an der Solidarität mit Pflegenden und mit Pflegebedürftigen fest? Oder heißt Pflege künftig: Frauen mit schlechten Erwerbsarbeitschancen betreuen Betagte, allein wegen eines schmalen Pflegegeldes? Pflegebedürftige aus besseren Kreisen würden zwar qualitätskontrolliert institutionell betreut, aber doch auch aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung ausgegrenzt, weil die Akzeptanz für Pflegebedürftigkeit als einer gleichwertigen Lebensform fehlt. In dem Maße, wie sich eine solche „Pflegelandschaft“ durchsetzt, wird auch in Deutschland eine Praxis aktiver Sterbehilfe an Bedeutung gewinnen. HARRY KUNZ