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Fiedeln und singen, drehen und stampfen

EXPERIMENTAL FOLKTanzend singt und spielt Maarja Nuut auf der Geige vergessene Lieder aus Estland. Heute live im Silent Green

Die Folklore eines Landes ist mitnichten deckungsgleich mit der Musik und den Tänzen der Menschen, die dort leben. Das trifft besonders auf ein Land wie Estland zu, dessen wechselvolle Geschichte aus Unabhängigkeitsbestrebungen und Fremdbestimmung durch repressive politische Systeme erst mit dem Beitritt zur Europäischen Union 2004 in dauerhafte Souveränität mündete. Die Phasen der Russifizierung durch das zaristische russische Reich und die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, sowie die nationalromantische Bewegung um die vorletzte Jahrhundertwende hinterließen auch in der Folklore Estlands ihre Spuren.

Und so kann es Maarja Nuut passieren, dass ihren Landsleuten die Lieder, die sie auf der Geige spielt, singt und mit Silben vokalisiert, eher exotisch vorkommen und nicht Stücke aus heimischen Musiktraditionen. Denn Nuut knüpft an traditionelle Spielweisen und Repertoires von Solo-InstrumentalistInnen an, welche durch die Systematisierung der Musikausbildung, durch das Aufkommen massentauglicher Chorliteratur und bühnenwirksamer Folk­loregruppen im Estland des 19. und 20. Jahrhunderts in Vergessenheit gerieten. Welche Gruppendarbietung kann schon mit einem Lied über eine rostige, quietschende Schaukel für Stimmung sorgen? Die zudem erst wieder funktioniert, wenn die zwei Brüder verheiratet sind und der dritte verlobt.

Über einem tiefen Summen intoniert Nuut mit durchdringender Stimme den Text und mit dem Geigenbogen das hohe Quietschen des verlassenen Gerüsts. Oder sie fächert ihren Gesang durch Loops zum Frage-Antwort-Spiel eines Volksliedes auf, in dem die Partnerwahl als Suche nach dem verschwundenen Pferd besungen wird. Passend zu diesem Tanzreim spielt sie auf der Geige einen federnden Walzer. Beide Stücke sind auf ihrem zweiten Album, „Une Meeles“ (Von einem Traum gehalten) zu hören, das sie nun live in Berlin vorstellt.

Neue Melodien, alte Texte

Ihre klassische Ausbildung verbindet die 30-Jährige, die in Tallinn lebt, in diesem Projekt mit den traditionellen Spielweisen dörflicher Folklore aus Estland, die sie in Archiven aufgetan hat. Nuut hat sich in den Sammlungen des estnischen Literaturmuseums in Tartu Hunderte Aufnahmen aus den 1920er bis 40er Jahren angehört, viele minutiös transkribiert und selbst herausgefunden, wie sich Gesang, die Bewegung beim Spielen und rhythmische Tanzschritte als Fiedler am besten in Einklang bringen lassen.

Nuut hat neue Melodien für traditionelle Texte geschrieben und eine oft mehrstimmige Klangumgebung aus Gesang- und Geigenloops geschaffen. Den Geigenbogen führt sie aufgeraut oder zart, minimalistische Motive verdichtet sie zu repetitiven Flächen mit hoher Anziehungskraft. In Konzerten verkörpert sie einen Rundtanz, der in traditioneller Folklore von einer Gruppe ausgeführt wird, allein mit Drehungen um die eigene Achse, ebenso stampft sie rhythmisch auf. Nuut spielt zwei Geigen, die verschieden gestimmt sind, und knüpft mit Improvisationen über das eigene Material an frühere Fiedler-Generationen an, die ihre individuellen Stile mit dem jeweiligen Anlass zu vereinen wussten.

Der Videokünstler Kristjan Suits wirft dazu Projektionen prächtiger Naturaufnahmen aus Estland zu Maarja Nuuts auf die Bühne, ihr Tontechniker hat auch das Album aufgenommen und abgemischt. Für „Une Meles“ hat sie Angebote großer Plattenfirmen ausgeschlagen und es unabhängig veröffentlicht. Finanzielle Zuwendungen durch die estnische Wirtschaftsförderung ermöglichen ihr derzeit große Freiheit bei der Wahl ihrer Auftrittsorte im Ausland. In verschiedenen Ländern erzählten ihr Menschen nach dem Konzert, jetzt würden sie gern einmal nach Estland reisen. Franziska Buhre

Maarja Nuut: Une Meeles (Independent/Indigo). Live heute, 21 Uhr, Silent Green, Gerichtstraße 35, Berlin-Wedding

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