ArgentinienHernán Ronsino lässt seine Hauptfigur in die Provinz und seine eigene Vergangenheit reisen: „Lumbre“
: Erinnerungen werden besichtigt

Ein Anruf im Morgengrauen. Man hat den Pajarito Lernú tot in einem Wassergraben gefunden. Lernú ist eine Art väterlicher Freund von Fernando Souzo, der als Drehbuchschreiber fürs Fernsehen in Buenos Aires lebt und sofort aufbricht, um in seine Heimatstadt Chivilcoy zu fahren. Pajarito Lernú hat ihm nämlich ein Kuh vermacht, die er aber erst einmal suchen muss – ein Anfang wie der eines Films, mit starken Bildern.

„Lumbre“ (Originalausgabe 2013) von Hernán Ronsino ist der letzte einer Serie von drei Romanen, die mit „Descomposicion“ (2007) und „Glaxo“ (2009, auf Deutsch als „Letzter Zug nach Buenos Aires“ 2012 erschienen) begann. In allen drei Büchern tauchen dieselben Figuren auf, und sie agieren in Chivilcoy, einer Kleinstadt 160 Kilometer westlich von Provinz Buenos Aires. „Lumbre“, Spanisch für „Glühen“, reicht allerdings fast in die Gegenwart: Der Pajarito Lernú stirbt 2002 – das Jahr nach dem Ausbruch der letzten Wirtschafts- und Währungskrise.

Die Hauptfigur Souza spürt den letzten Jahren seines Freunds Pajarito Lernú – eines verkannten Schriftstellers, der eine Kladde hinterlassen hat – und seinen mysteriösen Todesumständen nach. Souza wird dabei immer wieder mit der Geschichte Chivilcoys konfrontiert, oder eigentlich damit, wie diese Geschichte in der Gegenwart erinnert wird und welche Rolle sie immer noch spielt. Die Stadt wird so im Verlauf des Romans zum eigentlichen Protagonisten: 1854 als Planstadt gegründet, wurde sie immer wieder von der argentinischen Geschichte berührt. Domingo Faustino Sarmiento zog als Kriegsberichterstatter im Gefolge des Heeres von General Urquiza durch Chivilcoy und erklärte später als Präsident des Landes, er wolle 100 Chivilcoys gründen. In den 1930er Jahren arbeitete Julio Cortázar als Spanischlehrer in der Pampastadt.

Die glorreichen Zeiten

Freilich sind die glorreichen Zeiten des Städtchens längst vorbei, die örtliche Industrie befindet sich im Niedergang, die Eisenbahn, die einst die Entwicklung vorantrieb, fährt nicht mehr. Viele Junge machen sich – wie Sou­za – mit dem Fernbus davon. Sinnbildlich werden in den Tagen, die Souza, nun in seinen Dreißigern, wieder in seiner Heimatstadt verbringt, die Silos der Bunge-Mühle abgerissen, die einst wie die Kuppel einer Kathedrale den Ort markierten.

Nach und nach entsteht auf 320 Seiten das Bild einer aus dem Lot geratenen Gemeinschaft. Jugendliche greifen den Laden von ein paar Chinesen an, ein Fernbus wird von aufgebrachten Passagieren angezündet, es geschehen Unfälle, Morde und Diebstähle, auch der Pajarita Lernú, der sich in seinen letzten Lebensjahren dem Alkohol hingab, hat diverse Streiche ausgeheckt: Und auch die Kuh, die er vererbt, gehört ihm eigentlich nicht.

Fernando Souzo spaziert durch das Städtchen und begegnet Menschen und Orten seiner Jugend. Dabei wird die Erinnerung zum eigentlich Motor der Erzählung: „Sich an etwas zu erinnern bedeutet, es – jetzt erst – zum ersten Mal zu sehen.“

Ronsino lässt sich Zeit für seine Erkundung der Provinz. Einige Geheimnisse der Stadt werden aufgeklärt, andere bleiben. In seiner kammerspielartigen Konzentration auf einen Ort und ein Figurenkabinett gelingt es dem Roman allerdings, ein Abbild der Welt zu erschaffen, in der wir leben, die uns ständig entgleitet und der wir nicht einmal in der bisweilen trügerischen oder partiellen Erinnerung habhaft werden können.

Timo Berger

Hernán Ronsino:„Lumbre“. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. bilgerverlag, Zürich 2016, 340 Seiten, 25,80 Euro