: Gewalt und Wunder
SCHATZKAMMER Kambodscha ist kein Filmland. Doch es gibt ein beeindruckendes populäres Filmerbe, das Grusel und Melo, Fabeln und Sagen, Schlangenmenschen und Krokodil- monster vereint
VON TILMAN BAUMGÄRTEL
Das Filmplakat ist ein Blickfang: ein junges Mädchen, das statt Haaren ein Bündel Schlangen auf dem Kopf hat. Mit diesem Motiv wurde der kambodschanische Horrorfilm „The Snake Man“ (1970) von Tea Lim Koun beworben. Digitale Tricks gab es damals noch nicht, kostspielige Spezialeffekte standen in dem Entwicklungsland Kambodscha nicht zur Verfügung – also musste die Teenagerin, die die asiatische Version der Medusa spielte, eine Perücke tragen, an die statt künstlicher Haare echte Schlangen geklebt waren.
Diese Anekdote charakterisiert ein Kino, in dem ausufernde Fantasie und überschäumende Fabulierlust Seite an Seite mit Mangel und Armut gingen. 1953 erlang das südostasiatische Land die Unabhängigkeit von Frankreich; das „goldene Zeitalter“ des kambodschanischen Kinos der 60er- und frühen 70er-Jahre dauerte nur ein gutes Jahrzehnt, aber es ist ein faszinierendes Beispiel für ein postkoloniales populäres Kino, das schon lange seiner Wiederentdeckung harrt.
Ein Anfang eines solchen Revivals waren die Ausstellung und die Filmretrospektive „Golden Reawaking“, die kürzlich eine Gruppe von jungen Filmfans unter der Leitung des französisch-kambodschanischen Regisseurs Davy Chou in Phnom Penh organisierte. Zehn Tage lang liefen in der früheren Villa eines chinesischen Geschäftsmannes aus der Zeit der französischen Kolonisation allabendlich lang verschollen geglaubte Filme. Die Organisatoren luden Filmschaffende ein, die den Terror der Roten Khmer überlebt hatten, damit sie über diese kurze Blüte des lokalen Kinos sprachen. Oum Dara, ein Filmkomponist, ermahnte das Publikum: „Fragen Sie mich noch etwas. Bald bin ich tot.“
Swinging Phnom Penh
Abend für Abend versammelten sich vorwiegend junge Leute, unter denen sich gerade eine Nostalgie für die Swinging Sixties in Kambodscha ausbreitet. Je länger die Retrospektive lief, desto mehr Leute aus der benachbarten Slumgegend saßen zwischen den kambodschanischen Bohemiens auf riesigen Plastikkissen und Rattanmatten: alte, zahnlose Frauen in Pyjamas, die sich an diese Filme noch aus ihrer Jugend erinnern konnten, und ihre Enkel, die staunend die fantastischen Geschehnisse auf der Leinwand verfolgten.
Solange das heutige Kambodscha Teil des französischen „Protektorats“ Indochina war, machten dort nur die Kolonialherren Filme, sie nutzten das Land als exotischen Hintergrund. Erst ab Ende der 50er-Jahre begannen kambodschanische Regisseure, mit simpelsten Mitteln eigene Filme zu machen; eine Ausbildung hatten sie nicht. Die Filme dieser Zeit, die im Land schnell ein begeistertes Publikum fanden, lassen einem heute oft den Mund offen stehen, so unbelastet von Kinokonventionen und narrativen Regeln werden hier Geschichten erzählt, die sich meist aus dem reichen Schatz an Fabeln und Sagen der Khmer speisen, welche wiederum oft auf indische und javanische Ursprünge zurückgehen. Diese Filme sind archaisches Kino, das an die Stummfilme aus der Zeit vor D.W. Griffith gemahnt, mit Spezialeffekten, die an Méliès erinnern.
Einige der avancierteren Regisseure – wie Yvon Hem oder Tea Lim Koun – realisierten durchaus Filme, die zwar nicht in punkto Budget, aber in Sachen Fabulierlust an die Produktionen aus Nachbarländern wie Malaysia und den Philippinen heranreichen, die in der Nachkriegszeit eine relativ hoch entwickelte Filmindustrie hatten.
In ihren Filmen tut sich ein wüster Mikrokosmos voller Schlangenmenschen und Krokodilmonster auf, bevölkert von Riesen, sprechenden Affen, unbesiegbaren Kriegern und auf der Erde herumstromernden Gottheiten. Kurzfristig reüssierte man damit sogar im benachbarten Ausland: Tea Lim Kouns „The Snake Man“ wurde erfolgreich in Thailand, Singapur, Hongkong, Taiwan und den Philippinen gezeigt.
Dennoch ist die Filmgeschichte Kambodschas bisher ein weißer Fleck auf der Karte des Weltkinos. Der Autorenfilmer Rithy Panh, dessen Spielfilm „Das Reisfeld“ 1994 beim Filmfestival in Cannes lief, ist der einzige kambodschanische Regisseur, der heute im internationalen Arthouse-Kino eine Rolle spielt. 2003 drehte er „S-21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer“, einen beeindruckenden Dokumentarfilm über ein Folter- und Vernichtungslager in Phnom Penh. Panhs Filme spielen in Kambodscha, er selbst lebt allerdings hauptsächlich in Frankreich.
Rotstichige Schnipsel
Wer geduldig sucht, findet im Internet hier und da verstreute Hinweise darauf, dass das Land in den 60er-Jahren eine Filmindustrie hatte. Und auf YouTube gibt es eine Menge Filmschnipsel von ausgebleichten, rotstichigen Märchenfilmen und Melodramen – ohne Untertitel, aber oft mit herzergreifenden Gesangseinlagen. Trotzdem haben auch viele Fans des asiatischen Films vom „goldenen Zeitalter“ des kambodschanischen Kino noch nie etwas gehört. Literatur zu dieser Epoche gibt es praktisch gar nicht.
Zwischen 1958 und 1975 entstanden schätzungsweise 350 Filme – viele Melodramen und Komödien, aber vor allem Märchen- und Gruselfilme. Stars wie die ehemalige Schönheitskönigin Dy Saveth haben in dieser Zeit über 100 Filme gedreht, die in den mehr als 30 Kinos Phnom Penhs zum Teil monatelang liefen. Diese Filme gelten heute als Teil eines alle Künste umfassenden Prozesses der „Khmerisierung“ Kambodschas. (Die Khmer sind das Staatsvolk Kambodschas, es gibt auch eine Reihe anderer ethnischen Gruppen.)
Mit tatkräftiger Unterstützung von Norodom Sihanouk, dem damaligen König, erlebte das Land von 1953 und bis 1975, bis zum Beginn des Terrors der Roten Khmer, eine kulturelle Blüte. Sihanouk betrieb ein ehrgeiziges Modernisierungsprogramm und hoffte, binnen weniger Jahre den Lebensstandard eines Landes der Ersten Welt erreichen zu können. Zu dieser Zeit galt Kambodscha kurzzeitig wegen seines relativen Wohlstandes und seines innenpolitischen Friedens als „die Schweiz Südostasiens“.
König Sihanouk ist bis heute auch einer der produktivsten Regisseure Südostasiens. Er hat 17 Spielfilme und ungezählte Dokumentarfilme gedreht, die man heute zum Teil von der Website des „Königsvaters“ herunterladen kann. Die Spielfilme Seiner Majestät, der 2004 abdankte und heute in Peking lebt, sind meist Melodramen, die in der westlich orientierten Oberschicht Kambodschas spielen. Einige seiner Filme sollen aber auch der kambodschanischen Landbevölkerung, die oft bis heute nicht lesen und schreiben kann, Khmer-Geschichte und -Tradition nahe bringen. Sie wurden im Auftrag Seiner Majestät im ganzen Land gezeigt.
Filmisch interessanter sind die Werke der Regisseure, die in den 60er-Jahren das populäre Kinos entwickelten. Unbestrittener Höhepunkt der Retrospektive in Phnom Penh war der Film „12 Sisters“ (1968) von dem Autodidakten, Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Produktionsdesigner Ly Bun Yim, eine wüste orientalischen Fantasie voller Gewalt und Wunder. Ein König lässt seine zwölf Frauen, alle Schwestern, blenden und in eine Höhle werfen, weil ihm die dreizehnte Ehefrau eingeredet hat, dass sie Hexen seien. (In Wirklichkeit ist sie die Hexe.) Als die Frauen keinen Reis mehr bekommen, fressen sie nach und nach alle ihre Kinder auf. Nur ein Sohn überlebt. Nach einer wundersamen Karriere als Glücksspieler heiratet er die schöne Tochter der Hexe, und es gelingt ihm schließlich, seine Mutter und seine Tanten zu befreien und ihnen das Augenlicht wiederzugeben, nachdem er ihre Augäpfel in der Schatzkammer der Hexe gefunden hat.
Der Film wurde zum Teil in den Ruinen von Angkor Wat, zum Teil in einem Studio gedreht, dessen Kulissen aus Wachs gegossen waren. Der Regisseur Ly hatte kein Geld für richtige Dekorationen und verwendete das eingeschmolzene Wachs später für die Gestaltung anderer Filmsets. Unbeeindruckt von westlichen Konventionen des filmischen Erzählens schuf Ly eine vollkommen eigene, kraftvolle Filmsprache, die so wohl nur in einem Land möglich war, das zuvor keine eigene Kinotradition hatte.
Doch nicht alle Filme aus dieser Zeit basierten auf Legenden. Es gibt auch Filme, die im Kambodscha der 60er-Jahre spielen, wie etwa „Hear my Wish“ (1970) über eine Schönheit aus der Provinz, die in einem ultramodernen Phnom Penh zur Prostitution gezwungen wird und dabei so viel Geld verdient, dass sie sich schließlich freikaufen und als Boutiquenbesitzerin das Leben der Schönen und Reichen leben kann. Auch „A Time to Cry“ (1972) von Uong Kan Thuok, der interessanterweise im Filmmilieu spielt, zeigt eine urbane, westlich orientierte High Society, die sich die Zeit mit Liebesaffären und Luxusleben vertreibt.
Den Steinzeitkommunismus der Khmer Rouge, deren Terror sich dezidiert gegen das Moderne und gegen die Kultur richtete, machte der Blütezeit des kambodschanischen Films 1975 ein Ende. Ihren Feldzug gegen die Künste haben nur gut 30 der Filme aus dieser Zeit überlebt. Die meisten von ihnen befinden sich in schlechtem Zustand oder sind nur mit viel Glück als DVD auf dem Schwarzmarkt in Versionen ohne Untertitel auffindbar. Unter den Opfern der Roten Khmer waren viele Regisseure, Schauspieler und andere Filmarbeiter, die an der kurzen Blüte des kambodschanischen Kinos mitgewirkt hatten.
Zwei Kinos für Millionen
Von dieser historischen Katastrophe hat sich das Kino des Landes bis heute nicht erholt. Die lokalen Produktionen der letzten Zeit, selten mehr als 20 pro Jahr, sind ultrabillige Machwerke, meist Horrorstreifen, die auf digitalem Video gedreht werden. Leider geht diesen amateurhaften Werken der Charme der Filme aus den 60er-Jahren vollkommen ab. Für diese Filme gibt es in der Millionenstadt Phnom Penh inzwischen nur noch zwei Kinos, deren Eintrittspreise sich die meisten Kambodschaner nicht leisten können – und wenn, dann bevorzugen sie besser gemachte Filme aus Thailand, Südkorea und Japan. Wie in allen Ländern der Region unterhalten Fernsehen und Piraten-DVDs, die es für ein paar Cent an jeder Straßenecke gibt, die arme Mehrheit. Die Verleiher von Hollywood-Filmen haben Kambodscha gar nicht erst auf der Karte: Für sie ist nichts zu holen in einem Land, das zu der ärmsten der Welt gehört.