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Archiv-Artikel

„Ayhan hat die Familie zerstört“

Der Prozess um den Mord an Hatun Sürücü wurde gestern fortgesetzt. Die engsten Verwandten des Opfers nutzten dabei ihr Zeugnisverweigerungsrecht. Der Vater lieferte einen emotionalen Auftritt

von Plutonia Plarre

Es war ein Auftritt von wenigen Minuten, doch die Szene hatte es in sich. Nein, er werde keine Aussage zum Fall machen, sagte Kerem Sürücü gestern im Zeugenstand. Ob er dennoch etwas sagen dürfe, fragte der 64-jährige Kurde. Der Richter verneinte. Die Antwort wartete Sürücü nicht ab. Den Blick auf seine drei Söhne gerichtet, die in dem Prozess wegen Mordes an ihrer Schwester Hatun hinter Panzerglas auf der Anklagebank sitzen, schrie er in seiner Muttersprache und wild gestikulierend durch den Gerichtssaal: „Ich liebe alle meine Kinder. Auch das da unten im Grab. Ayhan hat die Familie zerstört.“

Der 19-jährige Ayhan ist der jüngste der angeklagten Sürücü-Brüder. Am ersten Prozesstag hatte er überraschend gestanden, die Schwester Hatun aus eigenem Antrieb als Strafe für ihren freizügigen Lebenswandel erschossen zu haben. „Niemand hat mir dabei geholfen“, sagte Ayhan und meinte damit seine mitangeklagten Brüder, den 25-jährige Alpaslan und den 26-jährige Mutlu. Beide bestreiten in dem Prozess jegliche Tatbeteiligung. Der Staatsanwalt geht indes davon aus, dass die drei Brüder gemeinsam beschlossen haben, ihre 23-jährige Schwester Hatun zu töten, weil sie durch deren Lebensstil die Familienehre in den Schmutz gezogen sahen.

Die Anklage stützt sich im Wesentlichen auf die Aussage von Melek A., einer früheren Freundin von Ayhan. Melek A. ist vor Gericht bereits als Zeugin gehört worden. Sie sagte aus, dass Ayhan ihr vor und nach dem Anschlag auf Hatun Details über die Planung und Ausführung der Tat offenbart habe – auch über den Anteil von Alpaslan und Mutlu.

Die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass es sich um ein Famlienkomplott handelt, versuchen die Verteidiger und die Sürücüs seit Prozessbeginn nach besten Kräften zu widerlegen. In dieses Bild passt auch der gestrige Auftritt von Vater Sürücü. Ende September hatte der Mann in einem Café in Schöneberg eine Presseerklärung verlesen lassen. Es habe keinen Familienbeschluss zur Ermordung Hatuns gegeben, hieß es darin. Alpaslan und Mutlu seien unschuldig. Auf Fragen der Pressevertreter nach ihrem Verhältnis zu Hatun wollten die Sürücüs nicht eingehen. Das werde vor Gericht erläutert, hieß es damals. Auch zur Beantwortung anderer offener Fragen wäre gestern ausreichend Gelegenheit gewesen. Aber auch diesmal waren weder der Vater und die Mutter noch zwei als Zeugen geladene Schwestern Hatuns dazu bereit. Eltern und Geschwistern von Angeklagten steht ein Zeugnisverweigerungsrecht zu.

Das Verhalten der Familie deckt sich mit der Verteidigungslinie der Anwälte. Ayhan sei Einzeltäter, sagte Rechtsanwalt Heinz Müller am Rande der Verhandlung und zog dabei merkwürdige Vergleiche: „In Bayern würde auch niemand auf die Idee kommen, die ganze Familie dafür haftbar zu machen, wenn ein Bruder seine Schwester erschlägt, weil diese im ganzen Dorf fremdgeht und er beim Biertrinken ständig darauf angesprochen wird.“

Dem Gutachten des Gerichtsmediziners zufolge wurde Hatun Sürücü durch drei Kopfschüsse getötet. Zwei Projektile seien aus maximal einem Meter Entfernung abgefeuert worden. Der Prozess wird fortgesetzt.