„Gegen Stress hilft ein Plausch mit den Nachbarn“

URBANE ZUMUTUNGEN Die Großstadt ist nicht per se schlecht für die Psyche ihrer BewohnerInnen, sagt der Psychiater Mazda Adli. Wichtig sind Platz zur Entfaltung und Kontakte zum sozialen Umfeld. Auch nicht ganz unwichtig: die Breite der Bürgersteige

■ 43, ist Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité, Leiter der Arbeitsgruppe für affektive Störungen und Exekutiv-Direktor des World Health Summit an der Charité.

INTERVIEW ALKE WIERTH

taz: Herr Adli, kennen Sie als Psychiater den Zustand der Besinnungslosigkeit: nicht mehr zu wissen, wo einem der Kopf steht?

Mazda Adli: Ja. Das passiert, wenn man nicht weiß, wo und wie man Erholung findet. Gerade für uns stressgeplagte Stadtbewohner ist es besonders wichtig, ein gut funktionierendes Repertoire an Erholungsmöglichkeiten zu haben.

Macht die Stadt uns irre?

Unser Gehirn ist nicht ideal konfiguriert, um in den dicht besiedelten Metropolen gut zurechtzukommen. Dennoch ist Stadt nicht per se schlecht für unsere Psyche. Immerhin leben Stadtbewohner im Durchschnitt unter besseren Lebensbedingungen – mehr Wohlstand, bessere sanitäre Bedingungen, mehr Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aber bestimmte Aspekte am Stadtleben können der psychischen Gesundheit schaden.

Welche denn?

Wir sind noch gar nicht so weit in der Forschung, um diese Frage genau genug beantworten zu können. Ich denke, es ist die Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isoliertheit. Wenn beides auf uns einwirkt, ist das eine Form von Stadtstress, die zu psychischen Problemen führen kann.

Was meinen Sie mit sozialer Dichte?

Wenn ich ständig den Fernseher meines Nachbarn höre, wenn ich mit der Spannweite meiner Arme beide Wände meiner Behausung erreichen kann und mich der erstickenden Enge auch nicht entziehen kann, dann ist das erlebte soziale Dichte. Wenn ich dabei gleichzeitig zu diesem Nachbarn gar keinen Kontakt und auch sonst kein funktionierendes soziales Netz von Gleichgesinnten um mich habe, dann kommt soziale Isoliertheit dazu. Und das ist wahrscheinlich eine toxische Mischung.

Gerade in Berlin nehmen Krankschreibungen wegen psychischer Belastungen zu – gibt es da einen Zusammenhang?

Wir sehen eine steigende Zahl von Krankschreibungen aufgrund von seelischen Erkrankungen – in der Stadt, aber auch generell. Für bestimmte seelische Erkrankungen ist das Risiko bei Stadtbewohner tatsächlich erhöht, etwa für Schizophrenien, Depressionen oder Angsterkrankungen. Aber ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass stadtabhängige psychische Erkrankungen rasant auf dem Vormarsch sind. Entscheidend ist, besser zu verstehen, wie sich dieser Stadtstress auf die Gesundheit auswirkt und unter welchen Bedingungen er toxisch wirkt. Denn Stress ist nicht per se schlecht. Im Gegenteil. Aber die Dosis macht das Gift.

Was ist denn gut am Stress?

Stress ist ein von der Evolution sehr weise konzipierter Mechanismus, der unser Überleben sichert, indem er unsere Anpassungsfähigkeit an die Umwelt garantiert.

Wenn Stress eigentlich die Anpassungsfähigkeit an die Umwelt garantiert: Ist schädlicher Stress dann ein Indiz dafür, dass wir uns in den Städten eine Umwelt geschaffen haben, an die wir uns nicht oder noch nicht anpassen können?

Ja. Die Lebensumwelt in bestimmten Städten, vor allem in den Megastädten – zu denen Berlin keineswegs gehört – übersteigt die Anpassungsfähigkeit vieler Menschen. Es ist deshalb wichtig, bei der Stadtplanung mit ins Kalkül zu ziehen, welche Form von Stadtleben unter welchen Bedingungen für uns gut ist und welche uns schadet. Daher plädiere ich für eine neue wissenschaftliche Disziplin, die enge Zusammenarbeit zwischen Stadtplanern und Architekten einerseits und Neurowissenschaftlern und Psychiatern auf der anderen Seite: einen Neurourbanismus.

Was könnte der ausrichten?

Die Art und Weise, wie wir als Neurowissenschaftler Stress messen, kann einem Stadtplaner helfen, die Auswirkung seiner Arbeit auf das psychische Wohlbefinden von Stadtbewohnern besser einzuschätzen. Uns als Psychiatern wird es helfen, wenn wir wissen, welche Möglichkeiten der Vorbeugung seelischer Erkrankungen sich aus der Stadtplanung ergeben und welche Limits es dort gibt. Die Städte in vielen Regionen der Welt wachsen rasant. Da müssten wir eigentlich gemeinsam einen Fuß in die Tür bekommen.

Was wären Ihre Anregungen in Bezug auf Berlin?

Wir müssen verstehen, wie sich Stadtstress auf die Gesundheit auswirkt und unter welchen Bedingungen er toxisch wirkt. Denn Stress ist nicht per se schlecht. Die Dosis macht das Gift

Im Vergleich zu Megacitys wie São Paulo, Delhi oder Hongkong haben wir es in Berlin sehr gut. Wir haben viel Platz, viel Grünflächen und ein Stadtleben, das den Austausch zwischen den Menschen fördert. Nichtsdestotrotz sind wir gut beraten, vorzubeugen und die Entwicklung unserer Stadt den psychischen Bedürfnissen der Menschen, so gut es geht, anzupassen.

Haben Sie ein Beispiel?

Ein Thema, das für die Berliner Stadtplanung wichtig sein kann, sind die Migranten: Wir haben gerade eine Untersuchung abgeschlossen, die zeigt, dass sie ein höheres Risiko für psychische Beschwerden haben. Sie sind eine Risikogruppe, was sozialen Ausschluss und Isoliertheit angeht. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum sich Menschen in Einwanderungsstädten ihren ethnischen Zugehörigkeiten entsprechend sortieren – eine Art reaktive Gettoisierung, die kurioserweise die Wahrscheinlichkeit bestimmter psychischer Erkrankungen senkt, weil dort das Zugehörigkeitsgefühl, das Gefühl von Vernetztheit und die soziale Kohärenz höher sind. Dafür entstehen natürlich viele andere integrationsbehindernde Probleme. Ähnliches gilt für Großstadtkinder. In der Stadt ist es schwieriger als auf dem Land, seine Welt im Griff zu haben, wenn man sich nicht angstfrei allein draußen bewegen kann. Auch das führt vermutlich zu problematischer Stresserfahrung und kann negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit im Erwachsenenalter haben.

Um Stress in der Stadt vorzubeugen, sollte ich also meine Nachbarn kennen?

Einfach gesagt ist das so. Wir müssen den sozialen Austausch fördern, für Plätze sorgen, wo man den Nachbarn kennenlernen und Gleichgesinnten begegnen kann. Wohnraum muss eine Peripherie haben, er darf nicht an der Haustür oder -mauer aufhören. Bildlich gesprochen: Der Bürgersteig muss breit genug sein, um eine Bank an die Hauswand zu stellen – um so ein Stück Wohnzimmer auf der Straße zu haben.

Was tun Sie persönlich, um zur Besinnung zu kommen?

Wenn ich Weihnachten bei meiner Familie in Bonn, direkt am Rhein, verbringe, ist es zur Entspannung wunderbar, auf das fließende Gewässer zu schauen. Auch Klavierspielen und Singen tun mir gut.