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Archiv-Artikel

Siegel drauf

Die Schutzgemeinschaft Filder ist so etwas wie die Mutter des organisierten ökologischen Protests in Deutschland. Seit 45 Jahren wehrt man sich vor Stuttgarts Toren gegen umstrittene Verkehrs- und Bauprojekte. Von Anfang an dabei – Steffen Siegel

von Jürgen Löhle

Als der 17-jährige Steffen Siegel vor 50 Jahren von Stuttgart-Möhringen nach Neuhausen auf die Filder zog, konnte er von seinem Elternhaus am Hang noch Fasanen unten im Sulzbachtal beobachten. „Heute haben wir hier nur noch Feldhasen, wenn überhaupt“, sagt der pensionierte Physik- und Mathelehrer. Was er nicht sagt: Ohne Leute wie ihn gäbe es wohl nicht mal mehr Hoppler auf der einst bäuerlich geprägten Ebene südöstlich vom Stuttgarter Talkessel.

Seit Jahrzehnten wehrt sich eine ganze Region gegen allerlei Verkehrs- und Bauprojekte, die ohne Gegenwehr wohl kaum etwas von dem steinlosen Lössboden übrig gelassen hätten, der als einer der fruchtbarsten Ackerböden überhaupt gilt. Weltweit. Der Landespolitik war dies freilich seit Generationen wurscht, die Filder eine Art Realisierungsgebiet „der habgierigen Asphaltmafia“, wie es der Stuttgarter Historiker Gerhard Raff beschreibt. Motto: Wenn man eine Region zubetoniert, dann aber gleich richtig.

Was man im Talkessel aber immer unterschätzt hat, ist der eigene, wehrhafte Kopf der Menschen auf der Ebene. So spitz wie das weltberühmte Kraut, das nur hier wächst, ist auch der Widerstand. „Filder heißt Felder“, sagt Siegel, „und die wollen wir retten.“ Seit nunmehr 45 Jahren ist die aus der einstigen „Schutzgemeinschaft gegen den Großflughafen“ hervorgegangene Schutzgemeinschaft Filder so etwas wie der Albtraum aller Planer, die zum Beispiel mit großem Strich Startbahnen bis an die Vorgärten von Scharnhausen oder Neuhausen verlegt hätten.

Und sie ist auch die Mutter aller ökologischen Bürgerinitiativen in Deutschland. Länger kämpft keiner, und ohne die Schutzgemeinschaft sähe es vor den Toren Stuttgarts heute so aus: Der Flughafen in Echterdingen hätte statt einer mindestens zwei, ursprünglich sogar drei Start- und Landebahnen, für die man die Autobahn Richtung München in eine Art offenen Kanal verlegt und einen ganzen Höhenzug, die Weidacher Höhe, samt Bebauung abgetragen hätte. Ein Airport, auf dem zudem 24 Stunden Betrieb herrschen würde (heute gilt ein Nachtflugverbot von 24 bis 6 Uhr) und auf dem Flugzeuge landen würden, die vorher im Tiefflug über die Randgemeinden donnern würden.

Die Landesmesse neben dem Flughafen hätte doppelt so viel Ackerboden vernichtet, und im Westen des Airports würde wohl schon heute eine Art Flugzeug-Parkplatz gebaut werden. Noch wächst dort Kraut, weil sich die Schutzgemeinschaft wieder mal dagegen stemmt. „Wenn die hier Flugzeuge parken, müssen die auch in die Luft – und das vor sechs Uhr morgens, sonst macht es keinen Sinn“, sagt Siegel.

Der Pädagoge mit dem markanten Bart ist so etwas wie ein Mann der ersten Stunde der Schutzgemeinschaft und seit 2007 als Nachfolger der ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Liesel Hartenstein und der Journalistin Gabi Visintin ihr Vorsitzender. Ein streitbarer, energischer Typ, der Wissen in sich trägt, mit dem man ganze Bücher füllen könnte. Siegel ist aber alles andere als ein Sesselgelehrter, der Mann geht raus, als ehemaliger Handballtorwart früher auch dahin, wo es manchmal wehtat und er sich von der Polizei wegtragen lassen musste.

Siegel wirkt schwäbisch-kantiger als viele seiner Mitstreiter, ist aber kein Schwabe. Geboren in Dresden, kam er über Thüringen nach Stuttgart, weil sein Vater einen Ruf an die Uni bekommen hatte. Curt Siegel war in Stuttgart ein renommierter Architekt, plante mit an der Schleyerhalle und dem Museum für Naturkunde am Löwentor. Steffen Siegel wurde Lehrer. Physik und Mathe, die Naturwissenschaften hatten es ihm angetan. Und aus der nüchternen Sicht der Zahlen auch die „Politik gegen die Verschwendung“, wie er sagt.

Geprägt haben den Mann die späten 70er- und die 80er-Jahre. Das Buch des CDU-Politikers Herbert Gruhl, „Ein Planet wird geplündert“, hat er gelesen, den Club of Rome verfolgt. Wachstum hat seine Grenzen, davon ist er immer noch überzeugt. Und Landverbrauch auch. Dann kamen 1980 die Grünen, und der streitbare Pädagoge hatte plötzlich eine politische Heimat.

Siegel ging auf in der Arbeit und bei den Grünen. Er saß für die Partei zehn Jahre im Kreistag. Dabei hat er sie groß werden sehen, die Kretschmanns, Hermanns und Kuhns, die heute als Ministerpräsident, als Landesverkehrsminister und als künftiger Stuttgarter OB an den Hebeln der Macht sitzen, zu denen es ihn nie gedrängt hat, weil er lieber ganz direkt und unbequem Politik macht, als um wachsweiche Kompromisse zu feilschen. Heute ist er nur noch „totes Mitglied“, wie er sagt. Die Mächtigen seiner Partei sind ihm ein wenig fremd geworden und umgekehrt.

Kretschmann nannte Siegel einst „Superfundi“, was damals schon kein Lob mehr war. Aber Respekt haben sie vor ihm, weil sein politisches Credo gefährlich für sie ist. Siegel will ökologische Politik von der „fast religiösen Ebene“ auf den knallharten, überprüfbaren Faktencheck reduzieren. Man kann ihm jedenfalls nichts vormachen, weil er nachrechnet und das auch kann. So zerlegte er in den 80er-Jahren beim Widerstand gegen die Startbahnerweiterung eine Berechnung der Planer, die die Abtragung der Weidacher Höhe in Echterdingen zum sicheren Durchstarten forderten. „Die Berechnung war schlicht falsch“, sagt er, „dazu reichte Mittelstufen-Trigonometrie.“ Die Startbahn-Erweiterung ließ sich nicht verhindern, aber die Weidacher Höhe und der Wald darauf stehen noch.

Daneben machte Siegel auch am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Sillenbuch mehr, als sein Deputat verlangte. Öko-AGs und Schülerzeitungsprojekte, manche mit Nachhall. Matthias von Herrmann, der Sprecher der Stuttgarter Parkschützer, war einer seiner Schüler, denen er auch die Gesetze der Physik plastisch klarmachte. Das Thema Verdrängung brachte er ihnen so nahe: Aufgabe – um wie viel steigt der Spiegel des Bodensees, wenn man die gesamte Menschheit darin versenkt? Es sind 70 Zentimeter. Dahinter steht die Botschaft – ein Miniereignis, wenn man bedenkt, was die Menschheit für Schaden anrichtet.

Auch das haben nicht alle gemocht, obwohl Siegel als Lehrer beliebt war und als Vorbild täglich die elf Kilometer zwischen Neuhausen und Sillenbuch mit dem Rad fuhr. 40 Minuten hin (schweißfrei), 30 Minuten zurück. Danach stürzte er sich in die politische Arbeit, schrieb Reden, entwarf Flugblätter, ging auf die Straße. Das Wort Aktivist bekommt bei ihm einen ganz eigenen Klang. „Wenn ich mich nicht wehren kann, muss ich mich aufregen“, sagt er lapidar über seinen Antrieb.

Das war nicht immer einfach. Siegel wurde angefeindet, auch auf den Fildern unterstützen längst nicht alle den Widerstand. Seinen geliebten 2CV haben ihm Unbekannte 2008 während des Kampfes gegen die zweite Startbahn vor dem Haus total demoliert, aufgeklärt wurde die Tat nie. Ende der 80er-Jahre wurden er, seine Frau und die beiden Kinder wochenlang am Telefon terrorisiert. „Das war hart“, sagt er, „wir haben uns nicht mehr getraut, die Kinder alleine zu lassen.“ Und es gab auch politische Rückschläge. Als 2004 der Echterdinger Bauer Walter Stäbler als Erster sein Land für den Bau der Messe verkaufte, stand die Schutzgemeinschaft im Hemd da.

Stäbler war nicht irgendwer, sondern jahrelang so etwas wie das Gesicht des bäuerlichen Widerstands. Der Spiegel hatte ihm 1999 eine Geschichte gewidmet, über der „Asterix im Schwabenland“ stand. Und genau der knickte als Erster weg, als es auf die Zwangsenteignung zulief. Ein Imageschaden für die Schutzgemeinschaft, den die Bauwilligen gerne aufnahmen. Die Filderer seien eben nur Zweckdemonstranten, die Politik zum eigenen Frommen machten, indem sie durch Widerstand den Preis hochtrieben. „Von einem auf alle zu schließen war natürlich Quatsch“, sagt Siegel, „aber es hat uns geschadet.“

Aber nicht zerstört. Die Schutzgemeinschaft ist auch 45 Jahre nach der Gründung gut beschäftigt und konnte sich nach dem Stäbler-Messe-Crash auf die Fahne schreiben, die zweite Startbahn des Flughafens mit verhindert zu haben. Monatelang war Siegel mit Vorträgen über die Dörfer getingelt und hatte über 40 Kommunen überzeugt. Das Projekt war politisch dann nicht mehr haltbar, im Moment ist es vom Tisch.

Aktuell richtet sich der Widerstand gegen die Westerweiterung des Airports und vor allem gegen Stuttgart 21, weil der geplante Tiefbahnhof durch die Flughafenanbindung auch Auswirkungen auf die Fildern hat. Nach jetzigem Stand werden künftig Regionalzüge und ICs über die S-Bahn-Gleise mitten durch Leinfelden-Echterdingen rumpeln. „Ein Blödsinn“, sagt Siegel, der 2011 auf einem Podium selbst Bahnsprecher Eckard Fricke dazu brachte, diese Trassenführung einen „komischen Schlenker“ zu nennen, den die Bahn gar nicht will, aber das Land.

Realisiert wird er trotzdem, daran konnte auch der „Filderdialog“ nichts ändern. Siegel war schon vorher skeptisch gewesen, die Schutzgemeinschaft hatte lange gezögert, überhaupt daran teilzunehmen. Und sieht sich jetzt bestätigt. „Das war kein Dialog, das war Verarschung“, sagt Siegel heute. Die Hauptforderungen der Schutzgemeinschaft – keinen Mischverkehr auf der S-Bahn-Strecke/Beibehaltung der Gäubahntrasse – wurden nicht ernsthaft erwogen, obwohl dies einst auch die Position von Verkehrsminister Hermann war. Vor der Wahl. Am Ende wurde ein neues Konzept des Flughafenbahnhofs als Erfolg verkauft, „obwohl den keiner wollte“. Und nach wie vor ist unklar, woher die 224 Millionen für den anderen Bahnhof kommen sollen. Nebenbei – eine Planfeststellung für die Fildertrasse gibt es auch noch nicht.

Die Arbeit geht der Schutzgemeinschaft also auch nach 45 Jahren nicht aus. Und Steffen Siegel fühlt sich mit seinen 67 Jahren fit genug, noch ein wenig dagegenzuhalten. Ein bisschen Bilanz darf aber auch sein. Stolz ist er vor allem, dass es der Schutzgemeinschaft gelungen ist, ökologischen Protest „aus einer Nische heraus ins Bürgertum zu tragen“. In den Hochzeiten zählte der eingetragene Verein etwa 5.000 Mitglieder quer durch alle Schichten. Selbst die traditionell CDU wählenden Landwirte marschierten und marschieren vorne mit. Und sogar der Gegner zollt Respekt, 2006 bekam die Schutzgemeinschaft den Ehrenamtspreis des Landes. Einlullen lässt sich Siegel von so was freilich nicht. Es gibt noch viel zu tun, auf den Feldern südöstlich von Stuttgart, damit wenigstens noch ein paar Feldhasen und einige Hektar Ackerland übrig bleiben.